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Luftangriff auf Holzweißig im Jahr 1945 Luftangriff auf Holzweißig im Jahr 1945: In Sekunden ist das Leben ein anderes

16.03.2015, 15:06
Das Haus Karl-Liebknecht-Straße 28b ist stark zerstört. Nach dem Wiederaufbau 1945 eröffnet Eleonore Spichal als 22-Jährige hier ein Hutgeschäft und arbeitete Männerhüte in herrliche Damenhüte um.
Das Haus Karl-Liebknecht-Straße 28b ist stark zerstört. Nach dem Wiederaufbau 1945 eröffnet Eleonore Spichal als 22-Jährige hier ein Hutgeschäft und arbeitete Männerhüte in herrliche Damenhüte um. privat Lizenz

Holzweissig - Am Morgen des 17. März 1945, an dem Anna Thoma in Holzweißig ihren 50. Geburtstag feiern will, die Speisekammer voller Kuchen ist und die Familie in Vorfreude, ahnt niemand, dass am Mittag eine Katastrophe über den Ort hinweggehen wird: 49 tote Menschen, Häuser in Flammen, in Schutt und Asche.

Die ehemalige Holzweißigerin Eleonore Spichal, Tochter von Anna und Franz Thoma, erinnert sich an das, was ihr Leben und das vieler anderer in Sekunden verändert hat: „Plötzlich heulten die Sirenen. Wir flüchteten in den Keller. Mein Vater lief auf den Hausboden, um zu sehen, wie viele Flugzeuge es sind. Dann nahm er die Großmutter gegen ihren Willen mit in den Keller. Er erkannte die große Gefahr.“ Und: Er soll Recht behalten.

Die Sprache verloren

Dann geht alles rasend schnell. Der kleine Sohn von Eleonore! Die Großmutter bedeckt ihn mit einer Zinkbadewanne, damit er geschützt ist. Eine Bombe schlägt voll ins Nachbarhaus ein. „Die Druckwelle schleuderte die Badewanne mit meinem Sohn an die Kellerwand, Weinflaschen zersprangen, auch die Gläser mit dem Honigvorrat des Großvaters“, blickt Eleonore Spichal zurück.

Aus den Kellern wagen sich die Leute wieder ins Freie. Unfassbar, was sie sehen. „Mir hat es regelrecht die Sprache verschlagen und ich habe sie länger nicht wiedererlangt“, so Frau Spichal. Das Nachbarhaus brennt lichterloh. Ein Teil des Wohnhauses, in dem gerade noch der Geburtstag vorbereitet wurde, liegt in Trümmern, Stallungen und Garten sind kaputt.

Verstört läuft das Schwein, das die Familie sich hält, zwischen Trümmern herum. Gespenstisch, sagt Frau Spichal, ist der plötzlich freie Blick bis zum Friedhof. „Hier standen eben noch Häuser! Alle waren tot, auch meine Schulfreundin. Nur die, die zur Arbeit waren, blieben am Leben und standen später fassungslos vor den Trümmern.“

Das eigentliche Ziel war Muldenstein

Eleonore Spichal ist noch heute entsetzt, wenn sie an diesen Angriff auf Holzweißig zurückdenkt. Auch für die Leute von Zscherndorf wird dieser 17. März unmittelbar vor Kriegsende zu einem Schicksalstag. Denn auch über diesem Dorf werfen die Bomber ihre zerstörerische Fracht ab. Ziel des Angriffs ist eigentlich Muldenstein, wie sich später herausstellt. Von Dessau war Anfang 1944 die Produktion von Stahltriebwerken für Flugzeuge nach Muldenstein verlagert worden.

Überwältigendes Zusammengehörigkeitsgefühl

Zweieinhalb Tage und zwei Nächte dauert es, bis es gelingt, den Brand aus dem Nebenhaus der Familien Thoma und Töpfer abzuwenden. „Mein Vater und mein Schwiegervater mussten das alles allein bewältigen und gönnten sich keine Stunde Schlaf. Wir durften das Haus wegen Einsturzgefahr nicht betreten. Meine Cousine Inge und ich wollten aber retten, was zu retten ist. Alles, was uns wichtig erschien - Persönliches, Kleidung und sogar die Matratzen - warfen wir, von der Angst getrieben, aus dem Fenster. Nachbarn trugen sofort alles weg.

Wie waren wir dankbar, als nach Monaten, als keine Gefahr mehr bestand, alles wieder zurückgebracht wurde.“ Die 92-Jährige spürt noch heute diese tiefe Dankbarkeit, die aufbaut auf ein überwältigendes Zusammengehörigkeitsgefühl. „Wir alle waren froh, dass wir lebten. Man durfte nicht nachdenken und nicht zurückblicken, damit man Schmerz und Wehmut nicht spürte“, sagt sie. „Jetzt musste alles wieder aufgebaut werden, aber wovon? Es gab kein Material. Früh um vier standen wir schon bei der Ziegelei an, um Steine zu bekommen. Unser Wohnhaus war vorher gerade fertig geworden, und nun mussten wir wieder von vorn anfangen.

Aber wir hatten wenigstens die Chance für einen neuen Anfang, im Gegensatz zu den vielen Toten, die in einem Massengrab beigesetzt wurden.“ Das Bild, das sich ihr einige Tage vor dem Luftangriff einbrennt, wird sie nie vergessen: Ein offener Leiterwagen mit Leichen rumpelt am Haus vorbei zum Friedhof - Opfer eines Luftangriffes auf die Bahnstation Grube Ludwig. „Engländer oder Amerikaner hatten eine deutsche Stellung angegriffen, waren aber unter Beschuss geraten, die Flugzeuge brannten. Um sich zu retten, mussten die Piloten ihre Bomben abwerfen.

Wenn sich heute Menschen aus Krisengebieten auf den Weg in eine neue Zukunft machen, bangen Mütter daheim um ihre Kinder – so wie meine Mutter nicht wusste, ob ihr Sohn, der als Fallschirmspringer über Kreta abspringen musste, noch lebte. Wir haben ihn dann in einer Wochenschau gesehen, meine Mutter schrie laut auf. Er war einer der wenigen Überlebenden.“ (mz)

Eleonore Spichal lebt heute im Erzgebirge bei einer ihrer Töchter.
Eleonore Spichal lebt heute im Erzgebirge bei einer ihrer Töchter.
Privat Lizenz
Das Haus in der Karl-Liebknecht-Straße in Holzweißig, wie es heute aussieht.
Das Haus in der Karl-Liebknecht-Straße in Holzweißig, wie es heute aussieht.
Privat Lizenz