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Jubiläum Jubiläum: Die gar nicht so Goldenen Zwanziger

Von MANFRED GILL 02.07.2009, 16:20

WOLFEN/MZ. - Arbeiter- und Soldatenräte wurden gebildet. Ihre Macht aber war schon nach wenigen Tagen gebrochen. Der alte Landrat, Freiherr von Bodenhausen, ließ im "Bitterfelder Tageblatt" veröffentlichen, dass die Zivilbehörden in der bisherigen Weise weiterarbeiten und alle Gesetze und Verordnungen bestehen bleiben. Als Ergebnis der Novemberrevolution entstand die Weimarer Republik, die unter anderem der Einführung des 8-Stundentages und der Bildung von Betriebsräten zustimmen musste.

Als die Unternehmer Mitteldeutschlands sich dagegen wehrten, antworteten die Arbeiter mit Generalstreik, der, so der Agfa-Geschäftsbericht, "alsbald auch auf die chemischen Werke übersprang, so dass am 26. Februar 1919 sämtliche Fabriken des Bitterfelder Industriebezirks zum Stillstand kamen." Angesichts dieser Zwangslage sah sich die Regierung abermals genötigt, mit der Streikleitung in Verhandlungen einzutreten, an denen sich dann auch die Arbeitgeber beteiligten. Sie trieb die Erkenntnis, dass, wenn sie sich abseits stellen, ihre Interessen völlig unberücksichtigt bleiben würden. So kam es unter Mitwirkung auch insbesondere der Filmfabrik zu den Weimarer Vereinbarungen, in denen die "Grundsätze für die Errichtung von Betriebsräten . . . festgelegt wurden." An diesen Verhandlungen war als Vertreter der Agfa-Werke der Sozialdirektor der Farben- und Filmfabrik, Prof. Dr. Fritz Curschmann entscheidend beteiligt.

Die politischen Auseinandersetzungen hielten an. Am 23. November 1919 besetzten Reichswehrtruppen die Farbenfabrik, worauf alle Chemiearbeiter der Region in einen Streik bis zum Abzug der Truppen traten. Im März 1920 streikten die Chemiearbeiter gegen die Kapp-Putschisten. In einigen Orten, wie Bitterfeld und Jeßnitz, kam es auch zu bewaffneten Auseinandersetzungen.

Der Versailler Friedensvertrag, der Deutschland enorme Reparationsverpflichtungen auferlegt hatte, führte zu einer fortschreitenden Entwertung der Mark. So zahlten zum Beispiel bereits 1920 Metallhändler beim Aufkauf von fünf Mark Kupfergeld 5,30 Mark. Mit diesem Geldverfall gingen eine zunehmende Verschlechterung der Lebensverhältnisse und eine steigende Arbeitslosigkeit einher. War der Bruttoreallohn 1900 noch mit 100 Mark gesetzt, so war er 1923 auf 60 Mark gesunken. Die Inflation herrschte. Ein Kilo Butter, das man am 1. Juli 1914 für 2,90 Mark kaufen konnte, kostete im November 1923 1 120 Milliarden Mark. Ein Arbeiter der Filmfabrik, der über 21 Jahre alt war, bekam zu der Zeit 70 Milliarden Mark Wochenlohn.

Da die Reichsdruckerei nicht mehr nachkam, druckten viele Unternehmen, auch die Agfa, eigenes Geld, um überhaupt Lohn zahlen zu können. Die Direktion der Filmfabrik nutzte diese Zwangssituation: "Was die Reduktion der Arbeiterzahl anbetrifft, so muss in allernächster Zeit mit der Einführung der zehnstündigen Arbeitszeit gerechnet werden. Bis zu diesem Zeitpunkt können wir jedoch nicht warten, sondern müssen schon jetzt die Zahl der Arbeiter reduzieren. Es sind daher sowohl in Betrieben, wie namentlich in den Werkstätten Entlassungen in größerem Umfange vorzunehmen . . ."

Gleichzeitig wurde beschlossen, ". . . die Ausgaben für Gehälter und Löhne wesentlich zu verringern." Der Lohn sollte auf zwei Drittel des Friedensstundenlohns gesenkt werden, das waren als Höchstsatz für die Wolfener Filmfabrikarbeiter 30 und für die Berliner 32 Pfennig.

1925 vollzog die Agfa zusammen mit den anderen großen deutschen Chemieunternehmen einen schon lange vorbereiteten Schritt und gründete als weltweit größtes Chemieunternehmen die Interessengemeinschaft Farbenindustrie Aktiengesellschaft - die IG Farben mit Sitz in Frankfurt / Main.

Ziel dieser Vereinigung war die Erhöhung der internationalen Konkurrenzfähigkeit, unter anderem durch Rationalisierung, Bereinigung der Produktpalette und Konzentration am profitabelsten Standort, Patentaustausch und Bereinigung der Warenzeichen. So wurden das Bayer-Photopapierwerk Leverkusen und das Kamerawerk Rietzschel München der Agfa-Filmfabrik Wolfen unterstellt, sie mussten ihre Warenzeichen ablegen und ab 1926 ihre Produkte unter dem Warenzeichen "Agfa" vertreiben. Der Aufbau des IG-Farben-Konzernes führte auch zu weit reichenden organisatorischen Veränderungen. Die Filmfabrik Wolfen wurde Sitz der Betriebsgemeinschaft Berlin, ihr wurden neben den schon erwähnten Photobetrieben auch alle Faser produzierenden Betriebe des Konzerns untergestellt und die vielen Betriebe der Dynamit Nobel angegliedert.

Trotz der politischen Unruhen und der ökonomischen Zwänge bemühte sich die Direktion der Filmfabrik ständig um einen kontinuierlichen Ausbau und die Erhöhung der Produktionskapazitäten. 1922 wurde die Filmfabrik III errichtet und 1927 mit dem Aufbau der Gießerei IV und der Vergrößerung der Begießerei III bedeutend erweitert. 1928 betrug die Filmfertigung 208 Millionen Meter, gerechnet auf 35-Millimeter-Film, konfektioniert unter anderem in drei Millionen Stück Pack- und über 18 Millionen Rollenfilme - ein Band, das fünf Mal um den Äquator reicht!

Aber nicht nur die Kapazität wurde erweitert, auch die Palette. Neue, noch empfindlichere Photomaterialien kamen auf den Markt. 1923 der Agfa-Negativ extrarapid als Kinefilm, 1924 der Agfa-Umkehrfilm und nach mehrjähriger Forschungsarbeit 1929 endlich der erste Tonfilm.

Mit dem Aufbau einer Anlage zur Herstellung von Kunstseide und Stapelfaser schuf sich die Filmfabrik ab 1921 ein zweites "Produktionsstandbein". Das sorgte in späteren Jahren mit den gesundheitsschädlichen Auswirkungen und ökologischen Belastungen bis 1990 für viele Probleme und brachte der Region das Negativimage mit dem Symbol "Silbersee".

1926 verkaufte die Filmfabrik bereits rund 572 000 Kilo Kunstseide und Stapelfaser. 1928 war der Faserumsatz mit 30 Millionen Reichsmark schon höher als der Erlös aus dem verkauften Kinefilm. Das Jahr 1928 wurde zum ökonomisch erfolgreichsten Jahr in der bis dahin 19-jährigen Geschichte des Werkes. Aber schon wurden erste Anzeichen der beginnenden Weltwirtschaftskrise 1929 sichtbar. Der Absatz ging zurück, die Produktion musste gedrosselt werden mit der Folge, dass die Belegschaft zum Teil entlassen und den noch Verbliebenen Lohn und Gehalt gekürzt wurden. Die vermeintlichen "Goldenen Zwanziger" gingen zu Ende.