Hochwasser Jessnitz Hochwasser Jessnitz: Kinder aus ihrem Umfeld herausgerissen
Jessnitz/MZ. - Kein Regen, aber auch kein Sonnenschein - der 13. August vor zehn Jahren ist zunächst ein ganz normaler Tag im Jeßnitzer Kindergarten "Volkshaus". Doch während das Kinderlachen des dreijährigen Max Marohns und seiner Altersgenossen über den Platz mit den alten, hohen und schattenspendenden Bäumen hell und heiter schallt, rollt eine der verheerendsten Naturkatastrophen, die die Muldestadt bis dato erleben sollte, ungebremst heran.
Doch trotz des stündlich steigenden Pegels spricht hier noch niemand von Jahrhundertflut. Im Gegenteil. Gegen 17 Uhr steht die damalige Umweltministerin Petra Wernicke (CDU) auf der Leopoldbrücke und vermittelt damit unbewusst das Gefühl, dass die Jeßnitzer Innenstadt alles unbeschadet überstehen wird. "Die Hochwassermarken von 1954 und 1974 werden schon nicht überschritten", hört man oft an diesem Tag.
Davon geht zu diesem Zeitpunkt auch Hannelore Hering (heute 64 Jahre) aus. Sie leitet neben dem "Volkshaus" auch den Kindergarten "Neue Reihe". Etwa 60 Kinder zwischen drei bis sechs Jahren werden in beiden Häusern betreut. "1967 habe ich hier als Erzieherin angefangen. Seit dieser Zeit sind wir immer glimpflich davon und trockenen Fußes nach Hause gekommen", denkt sie, als sie das "Volkshaus" verlässt.
Hannelore Hering hat an diesem Tag Spätschicht. Sie ist die letzte, die die Türen verschließt und damit die letzte, die das intakte Gebäude noch einmal sieht. Denn im Anschluss überschlagen sich die Ereignisse. Die Alarmstufe klettert auf die IV. Und mit dem ständig steigenden Wasserpegel steigt auch die Nervosität im Rathaus weiter an. Während man in den Abendstunden überlegt, ob man die Stadt evakuiert oder nicht, kontrollieren die Deichwachen den Schutzwall auf Schäden und verlegen Sandsäcke.
Auch auf dem Abschnitt in der Nähe des Sportplatzes, der umgangssprachlich nur als Deichabschnitt an der Waschanlage bezeichnet wird. Von hier sind es etwa 300 Meter Luftlinie bis zur Straße "Am Anger" - also jener Straße, wo mit dem Volkshaus der Kindergarten von Max steht. Also steht auch Vater Matthias Marohn auf dem Damm. "Doch die Sandsäcke haben vorne und hinten nicht gereicht."
Als die freiwilligen Helfer nur noch hilflos zusehen können, trifft Landrat Uwe Schulze (CDU) im Rathaus ein und legt gegen 23 Uhr zusammen mit Helmut Ernst fest, dass die Stadt evakuiert wird. Mitternacht ist es soweit. Doch mit der Flucht etwa der Hälfte der knapp 3 800 Jeßnitzer wird auch die Verteidigung der Schutzwälle aufgegeben. Während Max mit seinen Eltern nach Bobbau ausweicht, fährt Hannelore Hering mit ihrer Familie nach Zscherndorf.
Über die weiteren Ereignisse in der Geisterstadt hat Ria Geller, verantwortlich für den Hochwasserschutz, Buch geführt. "Am 14. August haben wir gegen 4 Uhr das Rathaus zugeschlossen. 4.30 Uhr kam dann das Wasser." Allerdings stieg es langsam - so wie in Jeßnitz bekannt - in den nicht geschützten Bereichen, etwa in Jeßnitz-West.
Aber nicht das bricht der Muldestadt das Rückgrat, sondern drei Deichbrüche mit denen niemand gerechnet hat. "Kurz nach 16 Uhr gab es zwei Brüche an der katholischen Kirche. Gegen 18 Uhr brach der Deichabschnitt an der Waschanlage." Wie ein wildes Tier über sein wehrloses Opfer stürzt das Wasser über den nun schutzlosen Ort. Und eine teilweise bis zu zwei Meter hohe Flutwelle drückt sich durch die Straßen und Gassen von Jeßnitz und walzt alles nieder, was sich ihr in den Weg stellt.
Max und die Kindergartenleiterin bekommen in Bobbau beziehungsweise Zscherndorf nichts davon mit. Erst später wird klar, dass neben den beiden Kindergärten auch die Wohnhäuser ihrer und vieler anderer Familien unter Wasser stehen. Damit sind sie doppelt getroffen, denn neben den eigenen vier Wänden hat ihnen das Jahrhunderthochwasser auch den Betreuungs- beziehungsweise den Arbeitsplatz weggespült.
Für den Dreijährigen ein einschneidendes Erlebnis, das sich tief eingebrannt hat. "Ich habe immer wieder gefragt, was mit meinem Kindergarten ist", erinnert er sich. Da seine Eltern und auch die Großeltern Flutopfer sind, wird der Junge tagsüber - während die Schäden beseitigt werden - von der Cousine Friederike betreut. Auf sein Drängen geht die damals 15-Jährige mit ihm ein letztes Mal ins "Volkshaus".
"Es war alles zerstört und wir waren gerade dabei die Spielsachen, Schränke und Betten auf die Straße zu stellen", sagt Hannelore Hering. "Da kommt plötzlich und unerwartet Max mit weit aufgerissenen Augen durch die Tür und fragt: 'Wo sind meine Freunde, wo ist mein Spielzeug?' Für mich war dies der Moment, der das ganze dramatische Ausmaß der Flut versinnbildlicht hat, denn den Kindern konnten man das Geschehene nicht erklären. Sie wurden von jetzt auf gleich aus ihrem gewohnten Umfeld herausgerissen."
Was für andere ein herber Rückschlag ist, wirft die Kita-Leiterin nicht aus der Bahn. Tagsüber in den Einrichtungen und abends zu Hause packt sie kräftig mit zu und organisiert alles Nötige. Während die Kinder zuerst in Wolfen-Nord, dann in Roßdorf und später wieder in der "Neuen Reihe" untergebracht werden, kommt nach der Jahrhundert- eine ungeahnte Spendenflut, die 1,4 Millionen Euro für eine neue Kita in die Kassen spült. Am 4. Mai 2004 wird sie unter dem Namen "Wasserflöhe" eröffnet. Damit hält auch die Normalität - 21 Monate nach der schlimmsten Naturkatastrophe, die Jeßnitz ereilt hat - endlich wieder Einzug in das Leben von Max Marohn und Hannelore Hering.