Hochwasser 2002 Hochwasser 2002: Ballett an der Bruchstelle
Bitterfeld/MZ. - "Es war Hochwasser und das Chaos war perfekt", sagt Matthias Gabriel, Chef des Chemieparks. Das Schlimmste: Fest- und Mobilfunk sind zusammengebrochen, überlebenswichtige Funkfrequenzen nicht kompatibel, die Straßen verstopft, das Regierungspräsidium hat Motorradmelder losgeschickt, um zu erfahren, was wo ist.
Donnerstag: Entsetzen in Pouch. Braungelbe Brühe schießt wie Wildwasser in die Landschaft. Sie reißt alles mit - Landstücke groß wie Wohnhäuser, riesige Bäume der so genannten Hufe. Die neue Straße zwischen Pouch und Löbnitz - abgebrochen wie ein übergroßer Keks. Die Goitzsche bald randvoll. "Eine Badewanne, wo sich der Hahn nicht zudrehen lässt und deren Abfluss verstopft ist", beschreibt das Gabriel. Und die droht überzulaufen, an einigen Stellen läuft sie über. Riesige Stahlplatten hat die Bundeswehr inzwischen auf die B 100 gehievt. Die sollen verhindern, dass der Asphalt wegschwimmt. Das Wasser muss gestoppt werden, Bitterfeld droht sonst die Katastrophe. Wie lange halten Sandsäcke? Wie lange halten die Menschen an den Sandsäcken durch? "Am Sonnabendabend hat der Landkreis dem Chemiepark das Kommando über die Großbaustelle am Muldedamm bei Löbnitz übertragen. Wir hatten alle technischen Möglichkeiten und die haben wir von Anfang an zur Verfügung gestellt", sagt er. "Dann war hier nur noch Ballett - Tag und Nacht", meint Wilfried Handt, damals Leiter des Bereichs Technik des Chemieparks. Sämtliche Baustellen im Chemiepark - immerhin 30 - werden stillgelegt. Kipper, Bagger, Laster - alles, was geht, wird eingesetzt, die Leute, die verfügbar sind, ebenfalls. "Kein Mensch hat nach Geld gefragt, alle Firmen waren Patrioten für die Region", sagt Gabriel. Er rechnet damit, dass jede hier beteiligte Firma dafür letztlich zwei Wochen Produktionsausfall verbuchen muss. 180 gewaltige 40-Tonnen-Sattelschlepper schaffen Betonbruch aus dem Chemiepark, Schwellen, Felsbrocken aus einem Steinbruch heran. "Eine Materialschlacht" nennt er das. Doch scheinen die Gesteinsladungen wie Krümelsand - so, wie das Zeug in den Strom gekippt wird, so wird es auch schon mitgerissen. "Die Schlacht stand auf der Kippe", gibt der Chemieparkchef zu. Selbst 80 Meter Stahlspundwand werden weggeschwemmt wie Papier. Am Ende hilft nur noch eins: Ein 20-Tonnen-Auflieger als Ganzes muss in den Strom. Und zwar augenblicklich. Gabriel lacht, wenn er zurückdenkt: "Ich sag zu dem Fahrer: ,Kipp das Ding da rein.' Er: ,Was soll ich meinem Chef sagen?' ,Ein böser Onkel hat dir den weggenommen.' Er: ,Nee. Ich brauche eine Quittung.' Ich hatte nur eine Zigarettenschachtel. Auf die hab ich geschrieben: ,Auflieger versenkt. Gabriel.' Leider ist die weg."
Das alles ging nur, meint er, weil Chemiepark-Eigentümer Jürgen Preiss-Daimler von seiner Geschäftsreise aus seinen Männern vor Ort freie Hand gelassen hat. Mach, was du kannst, so Gabriel, habe er ihm gesagt.
Nach vier Tagen und Nächten Kampf ist der Damm dicht.
Die Baustelle ist das eine, der Chemiepark das andere. Gabriel winkt ab: "Es war klar: Wenn das alte Prinzip gilt, Wasser fließt bergab, ist der Chemiepark nicht bedroht. Bayer hatte aus der Erfahrung der Flut in den 50er Jahren sogar noch das Gelände vor Baubeginn aufschütten lassen."
Und wie es der Zufall will: Kurz vor der Flut liegt eine exakte Höhenprofilkarte vom Chemiepark vor. "Wir konnten von jeder Stelle sagen: Hier kommt kein Wasser her." Dennoch betreiben alle Firmen Vorsorge, sichern Anlagen, lagern Chemikalien in Hochbehältern, dichten Rohre mit Ballons ab.
"Der Chemiepark hat immer funktioniert. Doch Greenpeace sah hier die Chance zum Katastrophenjournalismus. Offenbar kann man auch so Geld verdienen."