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Chemiekatastrophe vor 50 Jahren Chemiekatastrophe in Bitterfeld vor 50 Jahren: Mitarbeiter schildert die letzten Minuten im Werk

Von Stefan Schröter 14.07.2018, 10:00
Helmut-Jürgen Rothe am Unglücksort, der heute eine Brachfläche ist.
Helmut-Jürgen Rothe am Unglücksort, der heute eine Brachfläche ist. Kehrer

Bitterfeld - Es war ein heißer Donnerstag. „Man konnte das Gras in der Hitze flimmern sehen“, erinnert sich Helmut-Jürgen Rothe. 13.30 Uhr hatte der Lehrling mit der zweiten Schicht im PVC-Werk die Arbeit begonnen. Rothe hatte Tage zuvor sein erstes Lehrjahr als Chemiefacharbeiter im EKB beendet. Im Sommer ging es für den 17-Jährigen in die Produktion.

Rothe arbeitete am 11. Juli 1968 im PVC-Werk, als Unterstützung für den Autoklavenfahrer. In den Zylindern entstand der Kunststoff PVC. Unter hohem Druck und einer Temperatur von 58 Grad Celsius mussten die Prozesse ständig vom Autoklavenfahrer überwacht werden. „Die Autoklaven durften maximal 60 Grad haben, sonst war die chemische Reaktion nicht mehr beherrschbar. Die Technologie war genial, aber sie hatte ihre Schwächen.“

Noch am Vormittag hatte es Reparaturen am Autoklav Nummer 7 gegeben

Rothe erzählt, dass an diesem Tag der Autoklav Nummer 7 – der Auslöser der Explosion – bereits in der Frühschicht Probleme bereitete. „Laut Recherchen gab es dort undichte Stellen.“ Der Zschornewitzer berichtet von Reparaturen am Vormittag. Die zweite Schicht erfuhr von den Vormittagsproblemen nichts. Laut Rothe hätten sich die Schichtleiter untereinander nicht verstanden. Dies berichtet auch die MDR-Dokumentation „Der große Knall“ von 1999.

Autoklav Nummer 7 war laut Rothe nach den Reparaturen wieder angeheizt worden. „Es kam dabei zu einer rasanten Druckerhöhung.“ Kühlen habe nicht mehr geholfen. Die Bretterwand stand bereits vor dem 13 Meter langen Zylinder. Sie kam regelmäßig in solchen gefährlichen Hochdruck-Situationen zum Einsatz. Auch am 11. Juli fing sie das herausspritzende PVC ab, damit es kontrolliert in einem Kanal abfließen konnte.

Die Druckwelle der Explosion Helmut-Jürgen Rothe zwischen zwei Gebäude in einen Gang geschleudert

Doch Druck und Temperatur im Autoklaven stiegen weiter. „Dann kam der Betriebsingenieur zum Tor. Er sagte zum Autoklavenfahrer, dass der Autoklav 7 abgeblasen werden soll“, so Rothe. Warum der Fahrer den 17-jährigen Rothe anwies, hoch zu klettern und den zweiten Flansch zu öffnen, ist ihm bis heute unklar.

Daraufhin öffnete der Lehrling, wie aufgetragen, diesen sogenannten Blindflansch. Zu dieser Zeit sei die Halle bereits wegen Gasalarm evakuiert gewesen. „Ich wusste, dass das Öffnen gefährlich ist und es schnell gehen muss. Beim Aufschrauben hielt ich die Luft an.“

Danach rannte der Arbeiter durch ein Tor raus ins Freie. „Auf Höhe der Gleise erfasste mich die Explosion von hinten.“ Die Druckwelle habe ihn zwischen zwei Gebäude in einen Gang geschleudert. Er hatte Glück, dass er weder Trümmerteile abbekam, noch gegen eine Mauer krachte. Aber die Explosion fügte ihm an Rücken, Beinen und Armen Verbrennungen zu.

„Es herrschte Chaos, ich habe überall schiefe Wände gesehen“

Unzählige Glassplitter drangen in seine Haut ein, verursachten Schnittverletzungen. Der 67-Jährige zeigt Narben an Beinen und Armen. Letztlich sei er nach der Explosion wieder aufgestanden und weitergelaufen, bis ihn ein Lkw-Fahrer mitnahm zur Klinik. „Es herrschte Chaos, ich habe überall schiefe Wände gesehen.“

Später im Krankenhaus habe ihm eine Krankenschwester geduldig all die Glassplitter aus dem Rücken gezogen. „Sie hat sie mir dann in einer Nierenschale präsentiert.“ 40 Prozent seiner Hautoberfläche sei verbrannt gewesen, zeitweise sei er künstlich ernährt worden, der Zustand kritisch gewesen. Rothe überlebte. Andere hatten weniger Glück. „Allein in unserer Klasse hatten wir drei Todesfälle.“ Helmut-Jürgen Rothe war von 1987 bis 1992 der Leiter des Bitterfelder Kulturpalastes. (mz)