Von maroden Straßen zur Top-Adresse Bitterfeld: So haben Stadt und Bürger das Dichterviertel aufgebaut

Bitterfeld - Das Bitterfelder Dichterviertel ist ihr Zuhause. Nirgends anders könnte sich Waltraud Förster vorstellen zu wohnen. Hier, wo die Straßen benannt sind nach Puschkin, Lessing, Schiller und Goethe, nach Heinrich-von-Kleist und Johannes R. Becher, kennt sie jede Ecke und jeden Stein und beinahe jeden Menschen.
Weil sie schon ewig hier wohnt - mit den Eltern kam sie nach des Vaters Studium aus Nürnberg. Die Chemie verhieß eine auskömmliche Zukunft. „Aus ganz Deutschland sind die Leute damals zugezogen, die Chemie brauchte die doch. Und das hier waren alles Werkswohnungen“, sagt sie und zeigt in die Runde.
Sanierte Häuser, einladende Höfe. In einem eine Begegnungsstätte - der sogenannte Hofladen - und eine Galerie, im anderen eine kleine Bühne und Stände. Die Wohnstättengenossenschaft (WSG) Bitterfeld-Wolfen hat zum Wohngebietsfest eingeladen. Sie ist in diesem Areal Eigentümer der meisten Wohnungen - von insgesamt 850, die sie in Bitterfeld und Wolfen hat, sind hier allein 250. Und gefeiert wird regelmäßig, weil es auch regelmäßig einen Baufortschritt gibt.
Noch vor zehn Jahren war das Viertel keine Adresse. Aber jetzt. Weil von Jahr zu Jahr die Häuser schöner wurden, die Straßenzüge heller, die Höfe ansehnlicher, weil Kunst eingezogen ist und wieder Kinderlachen durch die Höfe hallt. Gerade noch ganze acht Prozent Leerstand verzeichnet die Genossenschaft im Quartier - Wohnungen, sagt Vorstand Norbert Rückriemen, die noch nicht saniert sind. Allmähliche Sanierung - das war von Anfang an so vorgesehen. Inzwischen hat die WSG rund sechs Millionen Euro hier investiert.
2007 lagen die ersten Ideen für das marode Viertel, das aus Werkswohnungen der Filmfabrik und des CKB bestand, auf dem Tisch. Zwei Jahre später hat sich die hiesige Standortgemeinschaft gegründet, bestehend aus Mutigen, die das Viertel aus der Vernachlässigung reißen und es nachhaltig entwickeln wollten.
Das Interessante dabei ist, die Initiative für das Dichterviertel ging nicht von der Stadt, sondern den Beteiligten aus. Dennoch ist es ein wichtiger Part des Stadtumbaukonzeptes von Bitterfeld-Wolfen. Vize-Oberbürgermeister Stefan Hermann, zugleich Bauamtsleiter, findet das Wirken der Gemeinschaft beispielhaft. „Wir hatten damals im Stadtentwicklungskonzept 16 Maßnahmen definiert“, blickt er zurück.
„Eine Quartiersvereinbarung wurde abgeschlossen und los ging’s. Die Stadt kümmerte sich um Fördermittel.“ Nun ist fast alles fertig. Wenn die Kavaliershäuser am Lustgarten als Wohngemeinschaftshäuser umgebaut sind - für eins steht das Fördergeld schon bereit -, bleibt noch ein einziges Projekt: der Körnerplatz.
Das Viertel ist gewachsen, es hat sich verjüngt und es ist für die Zukunft in Bewegung. Rückriemen lacht und sagt: „Wir überlegen uns jetzt schon: Was könnten wir noch machen? Einzelhandel vielleicht? Der Bäcker vorn an der Ecke profitiert von den Leuten, die hier wohnen. Da haben auch andere ’ne Chance.“
Er kennt nicht nur die Zahlen der Genossenschaft. Der Berliner kennt auch die Einwohner. Er weiß, dass das junge Paar gerade ins Viertel gezogen ist und er weiß auch um Leute wie Waltraud Förster, die Chemotechnikerin in der „Film“ war und hier nie weggezogen ist. Oder um Günter Pannier, der dem Viertel seit sage und schreibe 82 Jahren die Treue hält und der hier überall auf einstige Kollegen wie Marlene Hahn und andere stößt. Eben weil viele ihre Liebe zum Dichterviertel wiederentdeckten oder sie nie rosten ließen. (mz)