Bitterfeld Bitterfeld: Abnabelung von der Politik
BITTERFELD/MZ. - Damit ist die Stadt im Landkreis Anhalt-Bitterfeld mit Abstand die mit der geringsten Wahlbeteiligung. Welche Gründe könnte es dafür geben?
Bei der Beantwortung dieser Frage nimmt Dagmar Zoschke kein Blatt vor den Mund. "Die Politik hat dieses Ergebnis provoziert", sagt eine Frau, die nun für die Partei Die Linke ins Parlament einziehen wird. "Die Bürger sind alle fünf Jahre zur Wahl aufgerufen. Auf der einen Seite steht zwar die demokratische Meinungsbildung, auf der anderen Seite haben die Bürger aber keine Teilhabe und Einflussnahme auf die täglichen Entscheidungen."
Schaue man vor dem Hintergrund der aktuellen Haushaltslage auf den Stadtrat von Bitterfeld-Wolfen so könnten die Abgeordneten aufgrund der fehlenden Handlungsspielräume eben nur mit "Ja" oder "Nein" zu den eingebrachten Verwaltungsentwürfen votieren. "Damit sind wir nur noch ein Abnickgremium." Generell plädiere sie dafür, dass sich die gewählten Volksvertreter mehr und häufiger beim Wähler erklären - auch wenn gerade einmal keine Wahl ansteht.
Dem kann Jennifer Oertel (20 Jahre) aus Wolfen-Nord nur zustimmen. Vor der Wahl habe der Jugendclub '84 versucht, die verschiedenen Kandidaten in den Jugendtreff zu bekommen. Von vielen der Eingeladenen hätte man nie etwas gehört, doch zwei haben dann doch den Weg in die Plattenbausiedlung gefunden. Auf die Frage der Jugendlichen "Was man denn hier als junger Mensch machen soll?" sagte ein Kandidat nur: "Treibt mehr Sport!" Das Ergebnis solcher zynisch anmutenden Äußerungen ist bekannt: "Bei mir im Freundeskreis sind keine 50 Prozent zur Wahl gegangen."
Das verhält sich auch bei René Wetzel so. Der 22-jährige lebt in Wolfen-Nord und hat sich vor seiner Stimmenabgabe am Sonntag die Wahlprogramme genau angeschaut. "Beispielsweise konnte man das Schlagwort Bildung überall lesen. Doch wenn man sieht, dass es sich eine Sekundarschule nicht leisten kann, die Schüler zum Schwimmen zu schicken, fragt man sich: Wo fängt denn eigentlich Bildung an und wo hört sie auf?"
Aber nicht nur die Jugendlichen, sondern auch die Senioren werden nach Ansicht von Adelheid Scheil von der Politik nicht mehr gehört. Die 69-Jährige lebt in der Altstadt von Wolfen und kann mit dem öffentlichen Personennahverkehr und der Sicherheit zwei konkrete Probleme benennen, die immer wieder zu Verdruss führen. "In der vergangenen Woche ist eine Bekannte auf dem Rückweg vom Kulturhaus überfallen worden", sagt sie ohne weitere Details zu nennen. "Wenn am Abend irgendwo eine Veranstaltung ist und die Busse nicht mehr fahren, überlegt man sich zweimal, ob man daran teilnimmt oder nicht lieber gleich zu Hause bleibt. Die Senioren trauen sich abends nicht mehr raus und isolieren sich so." Sie spricht sich daher für eine bessere und abgestimmte Anbindung der Stadtteile an das Netz des öffentlichen Personennahverkehrs aus. "Aber es passiert einfach zu wenig."
Ob sich daraus die geringe Wahlbeteiligung ausschließlich erklären lässt, kann auch Adelheid Scheil nicht einschätzen, benennt aber noch weitere Einflussgrößen. "Viele sehen ja bei den eigenen Kindern und Enkelkindern, was passieren kann - angefangen bei der andauernden Arbeitslosigkeit bis hin zu den sozialen Folgen durch den Hartz IV- bzw. ALG II-Bezug. "Da werden die Augen dann vor den positiven Entwicklungen verschlossen", ist sie überzeugt.
Zwar hatte Carolin Kiehl mit ihrer vor einigen Wochen in Wolfen-Nord durchgeführten Umfrage ursprünglich das Ziel, Aussagen über die Probleme und Wünsche der hier lebenden Menschen zu erhalten, doch die Daten der Projekt- und Quartiersmanagerin der Erneuerungsgesellschaft Wolfen-Nord (EWN) kann man nun auch zur Ursachenforschung für die geringe Wahlbeteiligung heranziehen. Denn das, was den Menschen hier auf dem Herzen liegt, sei demnach die Sauberkeit und die "fehlenden Freizeitangebote". Die noch "nicht abgeschlossene" und "nicht repräsentative" Untersuchung fördere mit der angegebenen "hohen Identifikation" aber auch positive Ergebnisse zutage. Doch die - so Carolin Kiehl - seien auf die emotionale Bindung zurückzuführen. Kritikpunkte gebe es indes genügend, die sie allgemein mit einer "gefühlten Abnabelung" beschreibt. Dies bringe die räumliche Trennung von Wolfen-Nord auf der einen Seite und Wolfen sowie Bitterfeld auf der anderen Seite zum Ausdruck. "Ich möchte nicht pauschalisieren. Es gibt viele, die aktiv sind. Aber es gibt auch jene, die resignieren und sagen: ,Von der Politik wird hier nichts mehr unternommen. Warum sollte ich den etablierten Parteien da noch meine Stimme geben?'"
Dieses Gefühl findet man aber nicht nur in Wolfen-Nord sondern auch in Bitterfeld. "Die Nicht-Wähler sind, was ihre Stärke anbelangt, die Gewinner der Wahl", sagt ein Mann auf dem Bitterfelder Markt. Er steht hier zusammen mit Bekannten und spricht offen aus, was viele denken. "Man hat das Gefühl: Egal, was ich wähle - für mich wird sich eh nichts ändern."
Zu solchen Äußerungen müssen sich die Volksvertreter positionieren - auch auf der lokalen Ebene. Der Stadtratsvorsitzendes Armin Schenk (CDU) hat unter verschiedenen Aspekten die Wahlbeteiligung beleuchtet. Positiv sei ihm dabei aufgefallen, wie er in einem Gespräch sagte, dass die Wahlbeteiligung höher als zur Landtagswahl 2006 war. Dennoch hätte er sich als aktiver Kommunalpolitiker eine höhere Wahlbeteiligung - so um die 66 Prozent - gewünscht. Über die Gründe für das Abschneiden von Bitterfeld-Wolfen im Vergleich zu den Nachbarkommunen will er allerdings nicht spekulieren. Auch liegen ihm keine Erkenntnisse vor, dass es Zusammenhänge zwischen der Wahlbeteiligung und der politischen Arbeit des Stadtrates gibt. Die Oberbürgermeisterin von Bitterfeld-Wolfen, Petra Wust, gibt - befragt nach der geringen Wahlbeteiligung - folgendes zu Protokoll: "Es gibt eine Reihe von Gründen für Menschen zur Wahl zu gehen oder nicht. Ich werde mich davor hüten, Menschen, die nicht von ihrem demokratischen Grundrecht Gebrauch machen, zu verurteilen oder negativ zu bewerten."