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Drei Milliarden Tabletten pro Jahr Hinter den Kulissen von Bayer Bitterfeld: So läuft Europas größte Aspirin-Produktion

Das Aspirin-Werk in Bitterfeld-Wolfen ist einzigartig: Nirgends sonst in Europa wird das Medikament hergestellt. Nun wird die Fabrik erweitert. Die MZ hat sich im Werk umgeschaut - und Erstaunliches entdeckt.

Von Max Hunger Aktualisiert: 09.03.2022, 09:40
Tabletten vom Fließband: Die Aspirin-Produktion in Bitterfeld-Wolfen läuft zu 90 Prozent automatisch ab. Das ermöglicht es dem Werk, große Teile der Welt mit dem Medikament zu versorgen.
Tabletten vom Fließband: Die Aspirin-Produktion in Bitterfeld-Wolfen läuft zu 90 Prozent automatisch ab. Das ermöglicht es dem Werk, große Teile der Welt mit dem Medikament zu versorgen. Foto: Andreas Stedtler

Bitterfeld/ MZ - Die Bewegungen sind so schnell, dass sie mit dem bloßen Auge kaum zu fassen sind. In Sekundenbruchteilen pflücken die Roboterarme die eingeschweißten Tabletten vom Förderband. Kaum zwei Meter entfernt faltet zeitgleich eine andere Maschine die Packungsbeilagen und führt sie millimetergenau in die Pappschachteln ein. Einen Roboterhandgriff später läuft die ladenfertige Packung vom Band. „Aspirina“ - italienisch für Aspirin - prangt darauf in weißen Lettern auf grünem Grund. Daniel Jahnke, bekleidet mit Haarnetz und weißem Kittel, betrachtet den Takt der Maschinen. Bis zu 1,2 Millionen Tabletten laufen hier im Aspirin-Werk allein von einem Band. In acht Stunden. „Man weiß, dass man viele, viele Menschen damit versorgt“, ruft der Teamleiter gegen das Dröhnen der Maschinen an. „Das ist schon verrückt.“

Die Fabrik des Bayer-Konzerns in Bitterfeld-Wolfen beliefert ganz Europa, Teile Asiens sowie Nordafrika mit Aspirin. Drei Milliarden Tabletten des Medikaments werden aus Sachsen-Anhalt jährlich in 50 Länder gebracht. Neben der klassischen Tablette produziert die Firma hier inzwischen auch zahlreiche weitere Aspirin-Produkte. Sie heißen „Protect“, „Complex“ oder „Effect“; von der Kautablette bis zum Brausepulver. Ihre Gemeinsamkeit: Der Schmerzstiller, Fiebersenker und Blutverdünner Acetylsalicylsäure ist ihr Wirkstoff. „Aspirin ist eine Marke, die sich extrem gut hält“, sagt Fabrikgeschäftsführer Frank Wilgmann. Bald soll der Standort erweitert werden. Ein Neubau soll laut Bayer mehr Platz für die Produktion schaffen. „Wir sind an unserer Kapazitätsgrenze“, sagt Wilgmann. Denn damit eine Packung zügig im Apothekenregal landet, braucht es vor allem eines: Technik.

 
So läuft Europas größte Aspirin-Produktion. Video: Andreas Stedtler

Zu 90 Prozent vollautomatische Produktion

Der Weg vom Pulver bis zur Packung beginnt im Hochregallager. Bis unter die Decke der Halle reichen die Parzellen, in denen Kisten und Säcke lagern. Im Halbdunkeln sausen kleine Plattformen an Schienen entlang der Stahlträger. Selbstständig lagern sie Material ein, greifen sich Lieferungen heraus. Auch hier geben die Maschinen den Takt vor. Nachdem die Stoffe für Tabletten, Brausepulver und Co. per Lkw angeliefert wurden, werden sie hier im Lager verstaut. Die Zutaten werden anschließend in den sogenannten Doppelkonusmischer gefüllt.

In der Verpackungsstraße greifen Roboterarme blitzschnell die Tabletten und stecken sie in Schachteln.
In der Verpackungsstraße greifen Roboterarme blitzschnell die Tabletten und stecken sie in Schachteln.
Foto: Andreas Stedtler

Die Maschine im Einfamilienhaus-Format ist eine Art runder Tank, dessen Enden spitz zulaufen. Eine Vorrichtung lässt sie in hohem Tempo um die horizontale Achse kreisen. So wird sichergestellt, dass die Stoffe sich gut vermischen und später jede Tablette den richtigen Wirkstoffgehalt hat. Die Mixtur wird dann etwa in Tablettenform gepresst. Rund 90 Prozent der Produktion laufen automatisch ab.

Leuchtturm in Sachsen-Anhalts Wirtschaft

Das Aspirin-Werk gilt als wirtschaftlicher Leuchtturm in Sachsen-Anhalt. Dabei war lange nicht klar, dass sich die Fabrik mit ihren 500 Mitarbeitern hier ansiedeln würde. Laut Wilgmann sollte die Anlage eigentlich in Spanien gebaut werden. Kurz vor Baubeginn Anfang der 90er Jahre fiel die Wahl auf Bitterfeld-Wolfen - als Teil des Aufbau Ost. „Man hat sich dazu entschlossen, in den Osten zu investieren“, sagt Wilgmann. Heute sei sie die einzige Fabrik ihrer Art in Europa. Konkurrenten hätten ihre Produktion ins Ausland verlagert. Etwa nach China. Dort sind die Gehälter niedriger. Angesichts von sich häufenden Lieferengpässen aus Fernost und Konflikten im Ausland sieht der Geschäftsführer den heutigen Standort als Vorteil. „Wir sind froh darüber.“

Tabletten über Tabletten: Drei Milliarden Aspirin-Tabletten verlassen jedes Jahr das Werk in Bitterfeld-Wolfen.
Tabletten über Tabletten: Drei Milliarden Aspirin-Tabletten verlassen jedes Jahr das Werk in Bitterfeld-Wolfen.
Foto: Andreas Stedtler

Vor 120 Jahren wurde der bis heute eingesetzte Wirkstoff Acetylsalicylsäure zum ersten Mal als Aspirin-Tablette verkauft. Damals stammte er noch aus Weidenrinde, heute wird er künstlich hergestellt. Inzwischen gibt es viele Mitbewerber auf dem Schmerztabletten-Markt. Einige bieten sie deutlich günstiger an - trotz gleichem Wirkstoff. Warum sind dann ausgerechnet die grünen Packungen bis heute so beliebt? „Aspirin ist ein Gattungsbegriff geworden“, sagt der Fabrikchef. Ähnlich wie Tempo bei Taschentüchern sei der Name ein Inbegriff für Kopfschmerztabletten. In den USA - dem größten Markt - würden sie einfach „Bayers“ genannt. Außerdem lege man viel Wert auf die Qualität, meint Wilgmann.

Hauseigenes Labor stellt menschliche Verdauung nach

Von seinem Büro im Erdgeschoss des Verwaltungstraktes auf dem Fabrikgelände am Rande der Doppelstadt führen Flure und Treppen über hunderte Meter ins hauseigene Labor. Neben einer Maschine, in deren milchtütengroßen Tanks eine blaue Flüssigkeit wabert, steht hier Christian Erler. Die Apparatur simuliere den menschlichen Verdauungsprozess, erklärt der Fachgruppenleiter. Sechs Aspirin-Tabletten schwimmen gerade im nachgebauten Darm. Die Temperatur: 37,5 Grad - wie im menschlichen Körper. Regelmäßig werden im Labor Stichproben untersucht.

Chemietechniker Christian Erler überwacht die Qualitätskontrolle im Bayer-Labor. Die Apparatur simuliert die menschliche Verdauung.
Chemietechniker Christian Erler überwacht die Qualitätskontrolle im Bayer-Labor. Die Apparatur simuliert die menschliche Verdauung.
Foto: Andreas Stedtler

Sind Produkte und Zutaten frei von Verunreinigungen? Hat die Tablette die richtige Zusammensetzung? Gibt sie bei der Zersetzung im Darm auch in der vorgegebenen Zeit ihre Wirkstoffe frei? „Wir stellen sicher, dass das, was draufsteht, auch drin ist“, sagt Erler.

Roboter als Kollegen

Weitere Laufminuten entfernt durch Gänge und über Treppen macht sich „Christiane“ auf den Weg zur Verpackungsanlage. Unter lautem Piepsen rollt der zwei Meter hohe Transportroboter, benannt nach einer ehemaligen Werksingenieurin, in Richtung Förderband. Gleich wird er - oder besser: sie - Kartons mit Aspirinpackungen ins Lager bringen. Ganz ohne menschliche Hilfe. Am Förderband wirft Teamleiter Daniel Jahnke einen Blick auf den Roboter. „Ich bin stolz darauf, hier zu arbeiten“, sagt der Mann aus Wolfen. Warum? Er wisse: Was hier in seiner Heimat vom Band läuft, gelangt später in die ganze Welt.