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Anhalt-Bitterfeld Anhalt-Bitterfeld: Schreibtisch im Ruhestand

Von michael maul 17.07.2012, 18:09

jessnitz/MZ. - "Heute ist er ein Schreibtisch im Ruhestand", sagt Rosemarie Speckmann aus Jeßnitz, indem sie das alte Möbelstück in ihrem Haus liebevoll betrachtet. Früher, denkt sie zurück, habe sich das gesamte Geschäftsleben des Dampfsägewerkes und der Holzhandlung Paul Körting an diesem Stück abgespielt. "Das Geheimfach wurde manchmal als Versteck genutzt", erinnert sie sich an die Jugend ihres Sohnes.

Doch dieser Schreibtisch, mit seinen vielen Fächern und Schubladen, hat wahrscheinlich eine interessante Geschichte. Er könnte der hölzerne Bruder des Arbeitstisches sein, den auch Walther Rathenau während seiner Tätigkeit in Bitterfeld genutzt hatte. Aufmerksam geworden sei sie durch einen Bericht in der Mitteldeutschen Zeitung, der im Juni dieses Jahres veröffentlicht wurde. In der MZ war auch ein Bild dieses Exemplars abgedruckt, das dem Möbelstück in ihrer Wohnung zum Verwechseln ähnlich gesehen habe.

Die Geschichte ihres Exemplars beginnt wahrscheinlich um 1900 in Amerika. Aus amerikanischer Eiche gefertigt, wurden etwa 1 000 Stück nach Europa verschifft und gelangten danach in privaten Besitz, weiß sie aus Erzählungen der Großeltern zu berichten. Etwa 1935 wechselte der Schreibtisch von der Papierfabrik Lange in Jeßnitz in den Besitz ihrer Familie.

Diese Neuanschaffung machte sich für die Firma notwendig, da der vorherige Geschäftsschreibtisch beim Kapp-Putsch zerschossen wurde, ergänzt sie. Das Hochwasser im Jahr 2002 hat auch den altehrwürdigen Schreibtisch nicht verschont. "Bis zur Tischplatte hat er fast acht Tage im Wasser gestanden", blickt die Jeßnitzerin zurück. Bei einer Firma in Weißenfels habe sie das Familienstück dann restaurieren lassen, so dass es heute wieder in voller Schönheit anzusehen ist.

Das interessante an dem Möbelstück sei, dass alles passgenau gefertigt wurde. Sogar einen Schlitz für eingehenden Briefpost habe man damals eingearbeitet. "Wenn der Chef mit der Arbeit fertig war, wurde der Tisch abgeschlossen. Späte Post warf man dann durch den eingearbeitete Schlitz, so dass sie am nächsten Tag gleich bearbeitet werden konnte."

Nicht einmal das viele Wasser konnte dem Arbeitstisch etwas anhaben, freut sich Rosemarie Speckmann. Er habe zwar damals sehr bedrohlich ausgesehen, aber nach der Restauration sei von den Schäden nichts mehr zu erkennen gewesen.

Neben vielen anderen interessanten Bildern und kleinen Andenken steht der wahrscheinliche Bruder des Rathenau-Schreibtisches in einem der ältesten Häuser von Jeßnitz. Schweizer Zimmerleute hätten das Haus der Familie im Jahr 1855 auf der Walz erbaut, erzählt Frau Speckmann. Der richtige Ort für einen historischen Tisch.