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Abschiebung aus Bernburg nach Armenien Schicksal eines Viertklässlers bewegt die Menschen

Schwer bewaffnete Polizisten brachten den Grundschüler und seinen Vater nachts von Bernburg zum Flughafen Berlin. Nun hausen sie in Jerewan in einer Garage.

08.04.2021, 08:00

Bernburg

Das Schicksal eines Viertklässlers aus Bernburg bewegt gerade viele Menschen in der Saalestadt. Noch vor zwei Wochen besuchte der zehnjährige Alexander mit seinen Klassenkameraden die Regenbogen-Grundschule und freute sich schon, nach den Osterferien seine Freunde wiederzusehen. Doch daraus wird nichts. Denn der in Deutschland geborene Junge wurde in einem nächtlichen Einsatz nach Armenien abgeschoben.

Es ist ein Albtraum, der für Familie Kalashyan am Mittwoch vergangener Woche wahr wurde. Gegen 2 Uhr morgens krachte plötzlich die Wohnungstür in dem Plattenbau an der Dietrich-Bonhoeffer-Straße im Süden der Stadt auf. Mehrere schwer bewaffnete Polizisten stürmten die Wohnung der fünfköpfigen Familie.

Das Ziel: die Abschiebung von Mutter Zeytun Chatoyan, Vater Vyacheslav Kalashyan und ihrem zehnjährigen Sohn Alexander Kalashyan. „Ich kam gerade aus der Nachtschicht nach Hause, als 10 bis 15 Polizeiwagen vor unserem Haus standen. Ich wollte wissen, was los ist, aber ich wurde nicht durchgelassen, sollte im Auto warten“, erzählt der bereits erwachsene Sohn Gevorg Kalashyan.

Pfarrer Johannes Lewek nennt die Aktion unverhältnismäßig

Weil der 21-Jährige nicht zu seiner Familie durfte, griff er zum Telefon und bekam beim Anruf seiner Mutter hautnah mit, was sich wenige Stockwerke höher abspielte. Die Haustür wurde lautstark aufgerissen, Glas ging zu Bruch. „Ich hörte die Schreie meiner Mutter“, erzählt Gevorg Kalashyan. Diese drohte in ihrer Verzweiflung sogar, vom Balkon zu springen, woraufhin auch die Retter der Feuerwehr zu Hilfe gerufen wurden – genauso wie Seelsorger Johannes Lewek.

Für den Bernburger Pfarrer der evangelischen Talstadtgemeinde ist die Aktion unverhältnismäßig gewesen: „Hier wurde mit Inkaufnahme von schlimmer Gewalt gehandelt und wurden auch Menschenleben gefährdet.“ Dabei sei er nicht nur auf 30 schwer bewaffnete Polizisten getroffen, sondern auch auf eine völlig traumatisierte Mutter, die im Nachthemd auf der Straße stand. Verzweifelt und nicht wissend, wohin ihr jüngster Sohn mit seinem Vater gebracht wurde.

„Ich habe die ganze Nacht herumtelefoniert, aber ich bekam weder von der Ausländerbehörde noch von der Polizei Antworten. Dabei wären diese Informationen aus meiner Sicht das Wichtigste in ihrer Situation gewesen“, sagt Lewek, der die Frau in die psychiatrische Klinik begleitete, nachdem ihre Abschiebung aufgrund ihres Gesundheitszustandes abgebrochen wurde.

Völlig verzweifelte Mutter wurde in eine psychiatrische Klinik eingewiesen

Für den Pfarrer ist das Ausmaß dieses Vorgehens besonders schockierend. Immerhin gehört die inzwischen 19-köpfige Familie Kalashyan seit einigen Jahren zur evangelischen Gemeinde in Bernburg. Die ersten Familienmitglieder waren vor knapp 20 Jahren aus Armenien nach Deutschland geflüchtet. Als Minderheit mit jesidischem Glauben seien sie verfolgt und einige Familienmitglieder auch getötet worden, berichtet Mher Kalashyan, der Cousin des zehnjährigen Alexanders, von den Gründen der Flucht, die aber nicht nachprüfbar sind.

Inzwischen ist der Cousin selbst Gemeindekirchenratsmitglied in der Talstadtgemeinde. Wie er war seine Familie schon vor Jahren zum protestantischen Glauben konvertiert und habe in Bernburg ein neues Zuhause gefunden, sich auch integriert. Alexanders Mutter ging zwei Minijobs nach, die beiden großen Geschwister hatten eine Ausbildung erfolgreich abgeschlossen, gehen arbeiten. Der zehnjährige Alexander freute sich auf den Wechsel auf das Gymnasium im Sommer. Nur Vater Vyacheslav Kalashyan konnte nicht arbeiten.

Aufgrund einer schweren Diabetes und Asthmas ist der 48-Jährige gesundheitlich schwer angeschlagen. Ob das am Ende der Grund der Abschiebung war? Bekannt ist, dass das zuständige Bundesamt für Migration und Flüchtlinge die Asylanträge aller Familienangehöriger rechtskräftig abgelehnt hatte, heißt es aus der Pressestelle des Salzlandkreises. Die Familie habe alle Rechtsmittel ausgeschöpft.

Auf dieser Grundlage obliege es der Ausländerbehörde des Kreises, die Ausreisepflicht durchzusetzen. Aufgrund gesammelter Erfahrungen habe es sich zur Deeskalation als sinnvoll erwiesen, gerade bei Abschiebung aus Mehrfamilienhäusern eine erhöhte Präsenz an Sicherheitskräften anzufordern. „Wir möchten betonen, dass wir trotz der Umstände sensibel und verantwortungsbewusst mit der Situation umgehen“, heißt es aus der Pressestelle weiter.

Diese Abschiebung war ein bitteres Déjà-vu für die Familie Kalashyan. Denn bereits vor acht Jahren sollte der Bruder des nun ausgewiesenen Vyacheslav Kalashyan mit seiner Familie ins Heimatland abgeschoben werden. Doch mit einer großangelegten Unterschriftenaktion und Unterstützung aus der Politik - unter anderem durch den Linken-Bundestagsabgeordneten Jan Korte - konnte das im letzten Moment abgewendet werden.

Vater Vyacheslav und Sohn Alexander kamen in Garage von Nachbarn unter

Diesmal hatte die Familie weniger Glück. Stattdessen wurden der zehnjährige Alexander und sein Vater Vyacheslav Kalashyan mit einem Reisebus nach Berlin gebracht und mit 50 weiteren Armeniern in die Landeshauptstadt Jerewan ausgeflogen, hat Neffe Mher Kalashyan in Erfahrung gebracht. Notdürftig sind die beiden momentan in einer Garage bei ehemaligen Nachbarn untergekommen.

Die Bilder, die der zehnjährige Alexander mit seinem Handy an seine Schwester versendet hat, sprechen Bände. Mit Tränen in den Augen sitzen die Abgeschobenen verzweifelt auf einem kleinen grünen Teppich in einem kahlen, leeren Raum. Nur ein paar Wasserflaschen stehen im Regal, und die Medikamente für den Vater liegen bereit. „Ich suche gerade eine Möglichkeit, meinem Bruder und meinem Vater Geld zu schicken“, sagt Profiboxer Gevorg Kalashyan, der nun auch Hilfe von anderen Sportlern bekommt, die Anteil an dem Schicksal der Familie nehmen. Und nicht nur sie. Auch in der Kirchengemeinde sind schon Spenden für die Familie eingegangen, um sie in diesen schweren Stunden zu unterstützen.

Alexanders 16-jähriger Cousin startete eine Online-Petition

Ein Fünkchen Hoffnung haben die Kalashyans noch. Zwar wurde kürzlich der Antrag auf einen Flüchtlingsstatus abgelehnt, das Klageverfahren ist laut Mher Kalashyan jedoch noch offen. Unterdessen hofft die Familie auch auf Hilfe aus der Politik. Dass auch viele Bernburger schockiert von der Abschiebung des Zehnjährigen und seines Vaters sind, zeigen die zahlreichen Unterschriften der Online-Petition, die Alexanders 16-jähriger Cousin und Schüler des Gymnasiums Carolinum gestartet hat.

Binnen weniger Tage kamen mehr als 800 der 1.500 zum Ziel gesetzten Unterschriften zusammen. Unterstützt werden sie auch von Pfarrer Johannes Lewek: „Man muss sich wirklich fragen, nach welchen Kriterien hier entschieden wird, wer in Deutschland leben darf und wer nicht.“ Aus seiner Sicht hat die Familie alles Menschenmögliche getan, um bleiben zu dürfen. Selbst der zehnjährige Alexander, der deutschsprachig aufwuchs und jetzt nur noch einen großen Wunsch hat - dass der Albtraum für ihn ein Ende hat und er endlich seine Mutter wieder in den Arm nehmen kann. (mz/kt)