MZ-Serie Vom Sinn des Lebens

Marlen Luthers Liebeserklärung an die Kleinstadt und wie die Familie mit einem Gastschüler klarkommt.

Von Marlen Luther 28.11.2021, 14:00
Das Leben ist eine Reise. Doch wo geht sie hin?
Das Leben ist eine Reise. Doch wo geht sie hin? Foto: Kai Luther

Dostojewskis „Schuld und Sühne“ als Dünndruckausgabe, schmales Buch für so einen bedeutungsschweren Roman, aber schönes Hardcover, liegt rechterhand auf meinem Schreibtisch und wartet darauf, weitergelesen zu werden. Ausgerechnet ein Amerikaner war es, der mich dazu gebracht hat, tiefer in das St. Petersburg des 19. Jahrhunderts einzutauchen.

Jener Amerikaner, gerade mal 17 Jahre alt, der Ende des Sommers als Gastschüler im Rahmen eines Parlamentarischen Austauschprogramms in unsere Familie kam, bezeichnete dieses Buch als prägend für sich und seine bisherige Entwicklung. Nicht unbedingt etwas, was man von einem amerikanischen Teenager erwartet.

Erste Konversation über Zoom

Aufgeregt hatten wir zuvor das Zimmer vorbereitet, erste zaghafte Konversationen über Zoom geführt, Chancen und Vorbehalte in der Familie diskutiert. Uns war klar, dass es für alle eine Herausforderung werden würde, aber auch eine ganz besondere Zeit. Die ersten zwei Wochen waren unglaublich anstrengend. Die sprachliche Verständigung klappte noch nicht sicher, und wir switchten zwischen Deutsch und Englisch, stets den Google-Übersetzer zur Hand. Klar sollte er Deutsch lernen und wir es möglichst von Anfang an sprechen, es galt jedoch auch zu verstehen, wann, wo und wie der Alltag so bei uns ablief, welche Regeln es einzuhalten galt.

Die kulturellen Unterschiede stellten sich bald als größer heraus als angenommen. Täglich gemeinsam am Tisch zu sitzen, war zum Beispiel neu für unseren Gast. Zuhause bei ihm nahm sich jeder etwas, wenn er eben dazu kam und aß dann meistens für sich. Jeden Nachmittag wurde ich gefragt, was wir denn zum Abendessen planten. Meistens hatte ich noch keinen Plan oder nichts Besonderes vorgesehen, fühlte mich aber nach kurzer Zeit unglaublich unter Druck gesetzt. Ganz klar mein Problem, er meinte es ja gar nicht so. Später erzählte er uns, dass er anfangs gar nicht damit klar kam, dass bei uns so viel Brot gegessen würde. Mehr als heller Toast war in den USA nicht unbedingt üblich.

Die Waschmaschine lief gefühlt Tag und Nacht. Auf meine Nachfrage hin erntete ich die ziemlich entsetzte Gegenfrage, ob wir etwa unsere Kleidung mehr als einmal trugen, also ungewaschen! Was für uns völlig normal war, war für amerikanische Verhältnisse wohl ziemlich unvorstellbar.

Erstes Gewehr mit 12

Mit 12 bekam unser Gastjunge sein erstes Gewehr geschenkt. Inzwischen besaß er zwei und ging regelmäßig mit seinem Bruder auf die Jagd. Er arbeitete auf der häuslichen Farm, und zwar sowohl vor als auch nach der Schule – jeden Tag, auch am Wochenende! Wir bemühten uns, ihn bei verschiedenen Arbeiten mit einzubeziehen, denn er wollte unbedingt „busy“ bleiben.

Ob deutsche Kinder denn keine Verantwortung bekämen, fragte er uns eines Tages. Daheim, in den Vereinen, bei der Feuerwehr oder beim THW, die Jugend hatte in seinen Augen keine richtige Aufgabe, alles würde nur so theoretisch behandelt. Wir waren etwas perplex und versuchten, unser System mit logischen Erklärungen zu verteidigen. Im Nachhinein bin ich froh, dass wir diese Denkanstöße bekommen haben. Muss denn alles hundertfach geplant werden, bevor man beginnt? Was zählen diese ganzen Scheine und Zertifikate, wozu dient unsere Bürokratie wirklich und sollten wir unseren Kindern nicht manchmal etwas mehr zutrauen?

Marleen Luther
Marleen Luther
Foto: Luther

Wir lernten von- und übereinander, und unser Gast wurde langsam zu einem Teil der Familie. Seine Lieblingsfächer waren Philosophie und Geschichte, sodass wir lange Gespräche führten über den Sinn von diesem und jenem. Bald wurde er jedoch nachdenklich, und es stellte sich heraus, dass er unglaublich große Erwartungen an sein Austauschjahr und an sich hatte.

Es schien mehr als nur Heimweh, was in den ersten Herbstwochen an sich nicht ungewöhnlich für die Gastkinder war, die in einem völlig fremden Land alleine zurechtkommen mussten. Er schlief schlecht, telefonierte spätabends und wirkte immer mehr abwesend.

Ziemlich schnell merkten wir, dass etwas nicht stimmte und da unterbreitete er uns auch schon seinen Wunsch, wieder nach Hause zu fliegen. Alle Bemühungen und Bitten, sich noch etwas Zeit zu geben, halfen nicht. Er vermisste seine Autonomie und sein Auto, seine Arbeit und seine Familie. Er sah einfach keinen Sinn, weiter hier zu sein, was uns alle sehr bedrückte. Die Abreise wurde in die Wege geleitet.

Viele Abschiedsgeschenke

Am letzten Tage vor dem Abflug kam er mit einer großen Tüte voller Abschiedsgeschenke nach Hause. Seine Klasse hatte ihn sehr ins Herz geschlossen, und das wurde ihm schmerzlich klar. Als er nach dem allerletzten Training mit seiner Handballmannschaft aus der Turnhalle kam, tauchte der Mond hell und rund am dunklen Nachthimmel auf und einer rief: „Schau, der Mond, er geht das letzte Mal auf, nur für dich!“ Es folgten Sprüche in dieser coolen Art und Weise, wie sie Jugendliche eben machten, es wurde umarmt und auf die Schulter geklopft und trotz aller Coolness konnte ich die Trauer dieses Moments spüren. Am Morgen der Abreise standen wir lächelnd auf dem Bahnsteig und kämpften mit den Tränen. Dann fuhr der Zug.

Ich bin sicher, dass jede Erfahrung, und sei sie noch so bitter, für etwas gut ist. Vielleicht sollten wir uns öfter Fragen stellen – nach dem Sinn unseres Daseins, danach, wie es unseren Mitmenschen geht und ob wir eigentlich jemals versucht haben, sie wirklich zu verstehen. Uns über die Zeit freuen, die wir gemeinsam verbringen dürfen, uns Fehler verzeihen, gegenseitig und zu allererst uns selbst. Denn eigentlich gibt es keine Fehler. Es gibt nur den Mond, der jede Nacht wieder von Neuem aufgeht.