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Nachterstedt Nachterstedt: Gutachterstreit schwelt weiter

Von HENDRIK KRANERT-RYDZY 04.05.2013, 18:32
Die Abbruchkante am Freitag nach dem Abriss der meisten Häuser.
Die Abbruchkante am Freitag nach dem Abriss der meisten Häuser. Frank Gehrmann Lizenz

NACHTERSTEDT/MZ - Das berühmte gelbe Haus steht noch. Dieses Fragment einer Wohnung, das vom See her aussieht wie eine offene, zu grob modellierte Puppenstube. Ein halbes Haus, direkt an der Abbruchkante. Dutzende Meter darunter spiegelt sich die Mai-Sonne im Concordiasee. Unschuldig. Dabei liegen dort, begraben unter dem Wasser und dem meterhohen Schlamm, drei Menschen. Gestorben am 18. Juli 2009, als sich an jenem Sonnabendmorgen nahezu lautlos 2,8 Millionen Kubikmeter Erde in Sekundenschnelle aus einer alten Halde lösten und in den See stürzten. Seither ist die Siedlung Am Ring eine Geisterstadt. Die 42 Überlebenden einer der größten Bergbaukatastrophen in Sachsen-Anhalt wurden umgesiedelt. Jetzt, im Jahr vier nach dem Unglück, werden die sichtbaren Zeugnisse an Land geschliffen.

Der Bagger hat in den vergangenen Wochen ganze Arbeit geleistet. Zehn Doppelhäuser, dutzende Garagen und Schuppen sind nahezu spurlos verschwunden. Nur ein Berg aus Fernsehern, Computern und Monitoren erinnert an das Leben, das sich hier einst abspielte. Vor dem Abriss wurden alle Gebäude entkernt; alles, was die Bewohner nicht mitnehmen konnten und wollten, musste raus. In den Kühlschränken blieben der Aufschnitt fürs Frühstück und der Sonntagsbraten zurück. Vier Jahre über Verfallsdatum.

Dort, wo noch Fundamente liegen, sprießen bereits wieder Ackerwinde und Löwenzahn. Dahinter: Gärten mit Wacholderhecken und einem blühenden Kirschbaum. Und die beiden letzten Doppelhäuser. Eine trügerische Idylle, die eigentlich seit einer Woche schon verschwunden sein sollte. Doch erst am Donnerstagmorgen legt der Bagger wieder die Abbruchzange an. Eine Woche Zwangspause, die nicht einer geplatzten Hydraulikleitung im Bagger geschuldet war. Sondern zu hohen Grundwasserständen. Das Landesbergamt verfügte einen Stopp der Arbeiten.

„Es geht nur um Details“, sagt der Sprecher des Bergbausanierers LMBV, Uwe Steinhuber. Im Bergamt lachen sie über solche Sätze bitter. Ein nicht in Betrieb genommener Brunnen, der das Grundwasser niedrig halten soll, sei eben keine Detailfrage, sondern essenziell, heißt es hinter vorgehaltener Hand. Offiziell will sich niemand äußern, nicht in der Behörde, und nicht im übergeordneten Wirtschaftsministerium.

Die Lage zwischen Ämtern und LMBV ist angespannt, und der Streit um vermeintliche Detailfragen ist nur eine Facette. Im Kern dreht es sich um die Frage, welche Konsequenzen aus der Katastrophe gezogen werden müssen, was das am Ende kostet - und wer zahlt. Und dabei geht es schon lange nicht mehr nur um Nachterstedt und den Concordiasee. Sondern um die Bergbau-Folgelandschaft in ganz Mitteldeutschland. Die LMBV stellt die Katastrophe von Nachterstedt gern als singuläres Ereignis dar. Doch die Zweifel mehren sich. Nach Nachterstedt wurden ähnliche, wenngleich nicht so verheerenden Rutschungen auch andernorts registriert. Vor allem in der Lausitz kommt es immer wieder zum Versagen von Böschungen, die bislang als standsicher gelten. „Wir wissen inzwischen, was da passiert ist, aber noch nicht, warum“, sagte unlängst der Leiter Geotechnik der LMBV, Eckehard Scholz, der Lausitzer Rundschau.

In Nachterstedt scheint sich die LMBV sicher - ein „seismisches Ereignis“ und extreme Anomalien in den Grundwasserströmen sollen die Kippe ins Rutschen gebracht haben. Eine These, mit der die LMBV ziemlich allein da steht. Der Gutachter des Landes, Michael Clostermann, geht davon aus, dass die Kippe grundsätzlich instabil war und durch aufsteigendes Seewasser und steigenden Drucks im Grundwasser quasi weggespült wurde.

Der Streit der Gutachter, der nach Veröffentlichung der Gutachten Ende Mai/Anfang Juni eskalieren dürfte, ist für die künftige Sanierung und Nutzung von Tagebau-Restlöchern von immenser Brisanz. Ohne eindeutige Ursache kann keine Gefährdungsanalyse an anderen Stellen des Sees in Nachterstedt und an anderen Tagebau-Seen gegeben werden. Von einer Freigabe des Concordiasees ganz zu schweigen - das Bergamt hat bereits signalisiert, bei widerstreitenden Gutachten eine dritte Meinung einzuholen. Das wird dauern. Weitere Untersuchungen wären zwangsläufig - und das verursacht enorme Kosten. Allein die Arbeiten in Nachterstedt haben bis heute mehr als 55 Millionen Euro gekostet. Die Summe für die Sanierung wird noch einmal mit einem dreistelligen Millionenbetrag zu Buche schlagen. Was, wenn das auch an anderer Stelle fällig wird?

Dirk Henssen wischt solche Gedanken beiseite wie eine lästige Fliege in der Frühjahrssonne. Der Projektleiter der LMBV in Nachterstedt hat andere Sorgen. Jeder Tag auf dem gesperrten Gelände zwischen Bahngleisen und See ist anders. Henssen ist der Chef einer neu entstandenen Siedlung vor der alten, die gerade den Baggern weicht. Ein kleines Fort aus weißen Containern auf dem alten Nachterstedter Sportplatz, gesichert von Zäunen, Absperrband, Kameras und Wachleuten. Rund um die Uhr.

Jeden Morgen um sechs bekommt der diensthabende Geologe die Daten der vergangenen 24 Stunden: Messergebnisse aller Seismometer rund um den See, die Stände von 184 Grundwasserpegeln; GPS-Koordinaten, die Lageveränderungen registrieren sollen. Eine Stunde später kommt dann im besten Fall die Freigabe für das eigentliche Sanierungsgelände, das noch einmal durch einen Zaun vom Container-Dorf getrennt ist.

Dann dürfen die Männer los, die das Gelände auf neue oder breitere Risse kontrollieren. „Deswegen konnten wir bei Schnee auch nicht arbeiten, da sieht man die Spalten nicht“, sagt Henssen. Der lange Winter hat den Abriss um drei Wochen verzögert.

Es folgt die Einweisung des kleinen Bautrupps und der Männer von der Bergwacht sowie der beiden Beobachter auf der anderen Seeseite, die mit Ferngläsern auf die Böschung stieren müssen. Jeder bekommt einen Nummer, die Funkname ist und zugleich auf einem Magneten steht, den der Dispatcher auf einer großen Landkarte auf die Einsatzgebiete schiebt.

„Es muss sich jeder am Einsatzort an- und auch wieder abmelden“, sagt Henssen. Nur so könne sichergestellt werden, dass die Baustelle innerhalb von sieben bis acht Minuten evakuiert werden kann. Das kommt vor. Etwa, wenn ein Wildschwein einen Seismographen rammt und so scheinbar ein mittelschweres Erdbeben auslöst. Dann dröhnt ein Nebelhorn über den See und Rundumleuchten irrlichtern Warnungen übers Gelände. Den Ernstfall gab es bislang noch nicht.

Henssen hofft, dass es so bleibt, denn der heikelste Teil der Arbeiten steht noch bevor: Der Abriss des halben Hauses und einer großen Halle unmittelbar an der Abbruchkante. „Das geht nur mit einem Langarm-Bagger, der den Schutt vorsichtig landeinwärts zieht“, erklärt Henssen. In den See soll nichts stürzen. Die Bergwacht hat bereits das Heizöl aus dem Haus gepumpt. Zeitgleich sollen sämtliche Fundamente, alle Rohrleitungen und Kabel der einstigen Siedlung Am Ring und Teilen der Bahnhofstraße entsorgt werden. Ende des Sommers sollen alle Spuren der einstigen Siedlung beseitigt sein. Was bleibt, sagt Henssen, ist nur noch nackte Erde.

Die Abbruchkante am Concordiasee direkt nach dem Erdrutsch.
Die Abbruchkante am Concordiasee direkt nach dem Erdrutsch.
Frank Gehrmann Lizenz