Ascherslebener Geschichten der Hoffnung, Teil 3 Anne Bremer: Wenn die Augen auf einmal verrückt spielen
Zu Ostern, dem Fest der Hoffnung und Zuversicht, berichten drei Ascherslebener von ihren Schicksalsschlägen und ihrem Kampf zurück ins Leben.

Aschersleben/MZ - Der Gedanke, dass mit ihren Augen etwas nicht stimmen könnte, geistert schon lange im Kopf der Ascherslebener Pfarrerin Anne Bremer herum. Ihr Optiker hatte ihr empfohlen, einen Augenarzt aufzusuchen, weil er beim Messen der Dioptrienwerte Unregelmäßigkeiten feststellte. Als dann endlich ein Termin beim Facharzt stattfand, diagnostizierte dieser einen Augenschlaganfall. „Das irritierte mich total und klang für mich so schlimm“, erinnert sich Anne Bremer zurück. Ein CT sollte Klarheit bringen. Doch zu diesem CT kam es nicht mehr, zumindest nicht beim hiesigen Mediziner.
Ein Vorfall kam dazwischen. Die Pfarrerin erinnert sich an den Moment, der ihr Leben verändert hat. Sie sitzt im Sommer vergangenen Jahres in ihrem Garten, als ihre Tochter auf sie zukommt. „Ich habe sie gesehen und geschrien. Ihr Gesicht sah aus, als wäre es mit einem Messer gespalten“, erinnert sie sich zurück, als wäre es eine Szene aus einem Horrorfilm. Natürlich war mit dem Gesicht ihrer Tochter alles in Ordnung. Aber Anne Bremers Augen schienen verrückt zu spielen. „Wir fuhren sofort zum augenärztlichen Notdienst nach Halle, wo ich untersucht wurde“, erzählt sie. Ein Fachzentrum in Tübingen stellte dann die Diagnose Adult Vitelliforme Makuladystrophie, kurz AVMD. Das ist eine seltene Netzhautdegeneration, bei der die Netzhautmitte als Stelle des schärfsten Sehens (Makula) betroffen ist. „Für mich ist eine Welt zusammengebrochen. Ich hatte tausend Gedanken. Wie wird es weiter gehen? Werde ich mein Augenlicht verlieren?“
Plötzlich ist für Anne Bremer alles anders. Was gerade noch selbstverständlich war, ist auf einmal kaum noch möglich oder sogar verboten. „Ich darf kein Auto mehr fahren. Das nimmt mir ein Stück Selbstständigkeit. Einfach mal irgendwo hinfahren, das geht jetzt nicht mehr. Ich muss immer jemanden fragen.“ Die Arbeit am PC sei auch schwieriger geworden oder das Ablesen von Texten. „Ich muss alles stark vergrößern oder eine Lupe dabei haben.“ Was sie schmerzt, seien aber auch die alltäglichen Dinge, wie das Grüßen auf der Straße. Als kommunikativer und gut vernetzter Mensch plötzlich kaum noch jemanden auf der Straße zu erkennen, sei ihr auch unangenehm. „Manche erkenne ich am Gang oder an der Kleidung. Das sind vor allem die Menschen, die ich gut kenne. An anderen gehe ich einfach vorbei, obwohl ich sie kenne, aber eben nicht erkenne.“ Wie es mit ihrer Sehkraft weiter geht, weiß sie noch nicht. „Ich werde nie richtig erblinden, das konnte man mir sagen. Aber es gibt derzeit keine Therapie, die den Verlauf stoppen kann. Und der Verlust der Sehkraft wird voranschreiten“, sagt sie.
„Wenn ich jemanden auf der Straße nicht erkenne und nicht grüße, ist das keine Bosheit“, will sie noch loswerden. „Die Grenzen machen mir zu schaffen. Ich habe aber meine Familie, Freunde und meinen Glauben. Das macht mich stark.“