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Viel Stress wenig Sicherheiten Viel Stress wenig Sicherheiten: "30- bis 40-Jährige sind die überforderte Generation"

Von Isabell Wohlfarth 27.02.2015, 12:23
Die heute 30- bis 40-Jährigen stehen unter einem ganz anderen Druck als frühere Generationen.
Die heute 30- bis 40-Jährigen stehen unter einem ganz anderen Druck als frühere Generationen. imago/Westend61 Lizenz

Endlich geht es im Beruf voran: Nach jahrelanger Hängepartie ist jetzt mit Anfang 30 Zeit für die große Karriere. Oder kommt doch wieder nur ein schlecht bezahlter Projektvertrag? Wie auch immer: auch das Thema Nachwuchs steht jetzt ganz oben auf der Liste, die biologische Uhr tickt. Aber mit welchem Partner? Und wie sollen wir das nur finanzieren?

Vielen jungen Frauen und Männern zwischen 30 und 40 dürfte solch ein Szenario bekannt vorkommen. Trotz Kindheit im Wohlstand, hoher Bildungsqualifikationen und scheinbar unendlichen Möglichkeiten ist der Weg in den Beruf heute lang, die Zukunft ungewiss, der Druck hoch und die Unsicherheit ein ständiger Begleiter. Der Berliner Soziologie-Professor Hans Bertram hat in seinem neuen Buch einen Begriff für diese Gruppe gefunden: „die überforderte Generation“ (Hans Bertram/Carolin Deuflhard: Die überforderte Generation, Budrich Verlag, 2015). Ein Gespräch.

Warum sind die heute 30-40-Jährigen so im Stress?

Professor Dr. Hans Bertram: Weil sie in einer ganz schwierigen Zeitsituation stecken. Die heutigen jungen Männer und Frauen sind praktisch gefordert, in fünf Jahren das zu leisten, was ihre Eltern und Großeltern in zehn Jahren geleistet haben.

In den 60er und 70er Jahren erzielte ein Mann in der Regel bereits mit 22 Jahren ein Gehalt, mit dem man eine Familie gut ernähren konnte. Von den jungen Leuten heute wird erwartet, dass sie mehr Zeit in ihre Bildung investieren. Sie sind in der Regel mit etwa 25 fertig, müssen sich dann beruflich etablieren, kriegen meist erst Zeit- oder Projektverträge und freuen sich, wenn sie irgendwann Aussicht auf eine feste Stelle haben. Die vernünftige Lebensperspektive stellt sich erst mit Mitte 30 ein. In der gleichen Zeit müssen sie eine Partnerschaft etablieren und überlegen, ob sie Kinder haben wollen.

Das heißt, sie müssen in kurzer Zeit viel wählen und zu viele Entscheidungen treffen?

Ja, es sind viele Entscheidungen. In früheren Generationen gab es den klaren zeitlichen Rhythmus: Partnerschaft, Heirat, Kinder. Die jungen Mädchen bekamen eine Aussteuer, viele waren entsprechend als Arbeiterin tätig und froh, wenn sie Hausfrau und Mutter werden konnten. Heute müssen sowohl junge Männer als auch junge Frauen ihren Weg ins Leben finden und es sehr individuell gestalten. Und das in einer völlig neuen Berufswelt, die oft keine klaren Strukturen mehr kennt. Eine extrem unsichere Lebenssituation.

Unter welchen Voraussetzungen erfolgt Familiengründung heute?

Was sich nicht geändert hat: Bei der Familiengründung kommt es im Wesentlichen darauf an, ob man einen Partner hat. Aber das Sexualleben hat sich drastisch geändert. Heute haben Frauen bis zu dem Zeitpunkt der Entscheidung für oder gegen Kinder durchschnittlich vier Partner gehabt. Das macht die Entscheidung gleich viel komplizierter, weil sie vergleichen können.

Gleichzeitig hat sich die Lebensrealität entscheidend geändert. Während der Industriearbeiter der 60er Jahre damals ein genug hohes Einkommen hatte, um Kinder und Hypothek zu bezahlen, müssen sich heute Frau und Mann, unabhängig davon wie emanzipiert sie sind, beruflich engagieren. Natürlich ist das aber auch ein persönliches Bedürfnis, weil beide in Bildung investiert haben.

Aus sozialwissenschaftlicher Perspektive ist es auch klug, sich nicht nur für die Mutterrolle zu entscheiden. Denn die Phase der Mutter ist nur noch ein Abschnitt im Lebenslauf. Wenn die Kinder 15 Jahre alt sind, ist die Frau 45 – und was macht sie in den restlichen 40 Jahren?

An wem können sich die jungen Erwachsenen heute orientieren?

Wir haben das Problem, dass wir gar nicht mehr aus der Vergangenheit lernen können. Die jungen Erwachsenen können sich nicht mehr an den Eltern orientieren, weder was die Erziehung der Kinder angeht, noch was die Planung der eigenen Lebenswege angeht. Sie müssen sich überlegen, wie sie mit dieser sehr offenen Situation selbst umgehen.

Das Idealbild des gutes Lebens bedeutete über Jahrhunderte hinweg eine „Lebenstreppe“: man lernt, entscheidet sich dann für einen Beruf und eine Partnerschaft, kriegt Kinder, kommt auf den Höhepunkt des Berufslebens und geht die Treppe wieder hinunter. Heute funktioniert das nicht mehr so. Es gibt keinen Anker.

Was sind die Folgen der Überforderung? „Viele Väter steigen aus der Familie aus", sagt Bertram. Lesen Sie weiter auf der nächsten Seite.

Was sind die Folgen dieser Orientierungslosigkeit und des ständigen Drucks für die „überforderte Generation“?

In dieser Generation steigen vor allem viele Männer irgendwann aus der Familie aus. Etwa die Hälfte der Männer um die 45 lebt noch mit Kindern zusammen. Es bleiben alleinerziehende Mütter. Dann werden die ökonomischen Verhältnisse in der Regel noch schlechter.

Das zweite ist, dass viele junge Frauen ihr Potential nicht wirklich nutzen. Sie stecken einfach zurück. Die Berufswelt akzeptiert das und lässt dieses „Humankapital verkommen“. Viele Frauen sind selbst bei höchster Qualifikation bereit, für ziemlich wenig Geld zu arbeiten. Sie finden sich damit ab.

Wie hoch ist der psychische Stress?

Gerade Eltern sind zwar sehr im Stress, empfinden das aber subjektiv gar nicht so. Lebt man mit einem Kind zusammen, bekommt man trotz allen Ärgers ja auch viele positive Verstärkungen. Sie sind permanent Zeuge eines Fortschritts, an dem Sie selbst beteiligt sind. Gerade Mütter haben aber oft so viele Aufgaben zu bewältigen, dass sie über die Folgen nicht nachdenken und schlecht bezahlte Jobs oder berufliche Herabstufungen hinnehmen.

Trotz des Stresses verbringen Eltern heute viel mehr Zeit mit ihren Kindern als frühere Generationen…

Das hängt damit zusammen, dass unsere Erwartungen an die nachwachsende Generation deutlich gestiegen sind. Wir haben wenige Kinder, wollen aber lauter kleine Einsteins. Deshalb muss mehr Zeit und Geld investiert werden. Und wer investiert? Natürlich die Eltern.

Erwartungsdruck und Unsicherheit, das klingt nicht nach einer guten Ausgangssituation. Entscheiden sich deshalb so viele gegen Nachwuchs?

Das sind ja in der Regel keine bewussten Entscheidungen. Es gibt Untersuchungen dazu, die meisten sagen: „Es hat sich nicht ergeben.“

Aber es ist schon so, dass sich berufliche Phasen nach hinten verschieben, die biologische Uhr aber nicht mitspielt…

Das schon. Aber die niedrige Geburtenrate in Deutschland hängt damit zusammen, dass bis zum 30. Lebensjahr kaum Kinder geboren werden. Das liegt an den langen Ausbildungszeiten und daran, dass wir eine extrem qualifizierte Gruppe von jungen Frauen haben. Wenn die aber erst so spät anfangen, bekommen sie meist auch weniger Kinder.

Was wäre eine Lösung: Dass man schon im Studium Nachwuchs bekommt oder die Ausbildung nach den Kindern macht?

Es ist doch vorstellbar, dass man zwischendurch im Leben Pausen einlegt, um eine Ausbildung zu machen oder für jemanden zu sorgen. Und das über den Lebenslauf so verteilt, wie man es subjektiv gut findet. Das ist natürlich nur ein Ideal.

Wie schwierig diese Ideen umzusetzen sind, das hängt an der Lebensrealität. Wenn man heute in einem Beruf zwei drei Jahre aussetzt, ist man schnell draußen. Weil die Berufswelt auch nach dem Prinzip der Treppe organisiert ist.

Es sollte in der Arbeitswelt also auch ein Auf und Ab mit Seitenausgängen geben?

Ja, sicher. Ist es denn wirklich erforderlich, dass man zwischen 30 und 38 Jahren seine beruflichen Höchstleistungen erbringt oder kann man nicht auch noch mit 50 eine brillante Karriere machen? Stellen Sie sich mal vor, Sie würden mit 45 anfangen Jura zu studieren und mit 55 Richterin werden. Warum sollten Sie nicht bis zu Ihrem 80. Lebensjahr arbeiten?

Buchtipp:

Hans Bertram/Carolin Deuflhard: Die überforderte Generation - Arbeit und Familie in der Wissensgesellschaft, Budrich Verlag, 2015