Vrindavan Vrindavan: Training zwischen Affen und Hindu-Tempeln

Vrindavan/dpa. - Unvermutet und blitzschnell stürzen sie sich dann aufPassanten, Touristen oder Einheimische und reißen ihnen die Brillevom Kopf.
Natürlich reagieren Inder viel schneller als die völligverblüfften Ausländer, die trotz Warnungen mit derartigen Überfällennicht rechnen. Sofort wird der räuberische Affe mit einer Banane oderApfelsine zu einem Tauschgeschäft verlockt. Oft lässt das Tiertatsächlich die Brille fallen und greift zur Banane. In Vrindavansagen die Leute scherzhaft, dass Optiker, Obstverkäufer und Affensich zu einer Mafia zusammengeschlossen haben. Unter den Opfern istauch Victor. Das haarige Tier hat dem schwedischen Teilnehmer einesYoga-Kurses in der Hindu-Stadt die Brille stibitzt.
Mit Victor sind insgesamt 120 angehende Yogis aus Deutschland,Frankreich, Großbritannien und Spanien im Lehrzentrum, dem sogenannten Ashram, vier Wochen lang untergebracht. Es sind Studentenund Berufstätige, Hausfrauen und Selbstständige, überwiegend um die30, aber auch über 60 Jahre. Und die meisten sind Frauen. Sie sind indiesen Ort 120 Kilometer südöstlich von Delhi gekommen, um zuschwitzen, zu meditieren, Mantras zu singen und Yoga-Positioneneinzuüben, praktisch und theoretisch. Lohn der Mühe ist das Diplomals Yoga-Lehrer zum Abschluss der Plackerei, mit vierstündigerschriftlicher Prüfung.
Das morgendliche Training auf der Dachterrasse des Ashrams, wenndie Luft noch frisch ist und die Schwalben zwitschernd den tiefblauenHimmel durchziehen, gehört zu den schönsten Stunden des Tages. Esgibt vier Sprachgruppen mit deutschen, französischen, spanischen undenglischen Trainern. An den ersten Tagen sind die Übungen noch leicht- Oberkörper im Sonnengruß dehnen und strecken. Doch allmählich wirdes schwieriger bis hin zur Brücke, zum Handstand und zu diversenVariationen des Kopfstands. Auf den Kopfstand "Sirshasan", dieseKönigsposition des Yoga, muss man sich konzentrieren, auch wenn einemdabei eine Fliege auf der schweißfeuchten Stirn sitzt.
Überhaupt ist die Konzentration nicht leicht: Auf den Bäumenkreischen kleine Papageien. Von dem dicht bevölkerten Ort schallenGebete aus Lautsprechern herüber, und ab und zu rasen ein paar Affenquer durch die Gruppe, um über der nächsten Brüstung zu verschwinden.Indisch sind bei diesem Yoga-Unterricht nur die Namen der Positionen.Die Lehrer dieser internationalen Organisation kommen alle ausEuropa, haben allerdings indische Wahlnamen. Weil die sich kaumjemand merken kann, werden die Lehrer pauschal "swami" genannt.
Gespannt blickt die Gruppe auf Swami Sitananda, die den Ungeübtenden "Skorpion" vormacht, mit den Unterarmen fest auf dem Bodenverankert, die Beine hoch in der Luft und die Füße zum Kopfhingeneigt. Die Gruppe ist beeindruckt, so weit bringt man es nur mitjahrelanger Übung. Ausgerechnet die mit Abstand unsympathischsteKursteilnehmerin, die über 60-jährige pensionierte Lehrerin Marie-France aus Nizza, schafft einen tadellosen Skorpion. Nur Reinhard ausWien, ein 40 Jahre alter Künstler mit einem muskulösen Körperbau,kann es ihr noch gleich tun.
Die schlimmste Tortur erleben die Sessel- und Sofa-gewöhnteneuropäischen Körper während der Meditation: stundenlanges Ausharrenim Schneidersitz auf dem Boden, und das nach Möglichkeitbewegungslos. Da sind die unterschiedlichen Kulturen gut auszumachen:Für Inder ist die Übung ein Leichtes, auch im fortgeschrittenen Altersitzen sie auch auf Stühlen am liebsten im Schneidersitz. DieEuropäer - wenigsten die meisten - tun sich erheblich schwerer damit.
Einen Ausgleich bieten die kurzen Pausen zwischen Essen,Vorlesungen und Training. Dann stürzen sich alle in das Gewühl derengen Geschäftsstraßen Vrindavans, um das spartanische Menü desAshrams mit Obst, Nüssen, süßen Kuchen und Mineralwasseranzureichern. Alles ist spottbillig, und die Boutique-Besitzermöchten einem am liebsten ihr gesamtes Warenlager verkaufen."Brauchen Sie keine Seife? Zahnpasta? Einen Eimer oder vielleichtTöpfe?"
Rikschafahrer verfolgen die leicht auszumachenden Ausländerminutenlang, um ihnen Fahrten zu benachbarten Tempeln anzubieten.Alte Frauen halten sie am Arm fest, in der Hoffnung auf eine mildeGabe. Wer noch nie in Indien war und kein Englisch spricht, gewöhntsich erst langsam an die menschliche Tuchfühlung. Doch nach einigenTagen schlängelt man sich bereits entspannter durch die brodelndeMenschenmenge.
Dagmar aus Seoul, eine deutsche Unternehmers-Gattin, hat sehrrasch in einer Seitengasse einen "Telefon-Shop" entdeckt. Dort sitztman gemütlich auf einem Stuhl und plaudert mit der Familie daheim,für wenige Rupien. "Der Kurs ist eine gute Disziplin-Übung, aber ichzähle die Tage, bis ich wieder gemütlich zu Hause bin und etwasAnständiges essen kann", sagt Dagmar ins Telefon und spricht dabeivielen aus dem Herzen.
Europäische Handys funktionieren übrigens tadellos in Indien, ohnejede Zusatzinstallationen. Ebenso kann man nur Gutes über dieindische Post sagen. Eine während des Kurses abgeschickte Postkartebraucht nur wenige Tage bis in den deutschen Briefkasten. Der Kontaktzu Indern, zu Land und Kultur bleibt gering, doch innerhalb derGruppe kann man in diesen vier Wochen erstaunliche Entwicklungenbeobachten.
Die über 50-jährige Mellie aus München, Indien-Fan, aber Yoga-ungeübt, entpuppt sich als biegsam und talentiert. DieKettenraucherin und Nachtschwärmerin hat sich klaglos in die rigoroseAshram-Disziplin eingefügt, ohne Kaffee, Zigaretten und Fleisch, woum 5.30 Uhr die Wecker-Glocke scheppert und man um 22.00 Uhr todmüdeins Bett sinkt. Mellie meditiert bereits vor dem morgendlichenWeckruf auf dem Bettvorleger.
Unter diesen kargen Lebensbedingungen entwickelnZimmergemeinschaften, die sich gut verstehen, eine ungeahnteSolidarität, die Wohlstandsmenschen, die alles haben, längst verlorengegangen ist. Wenn einer hustet, sich mit Magen-Darm-Problemenherumschlägt oder sonst etwas braucht, holen die anderen sogleichmitgebrachte Säfte, Bonbons oder Tees aus ihren Rucksäcken. Hier wirdLeid, Freud und Erkenntnis geteilt. Und davon gibt es reichlich. ZumBeispiel, dass eine Dusche auch mit Eimer und Schöpfbecher sehr gutmöglich ist, genauso, wie man im Schneidersitz auf einer Strohmatteseine Mahlzeit einnehmen kann.
Im großen und kühlen Hauptsaal des Ashrams geben die Swamis zudemtägliche Beratungsstunden für seelische oder physische Schwächen,wozu vor allem auch Verdauungsstörungen gehören. Nicht jeder verträgtdie strikt vegetarische Kost mit Reis, den indischen Chapati-Brotfladen, Gemüse und Hülsenfrüchten. Und es besteht durchaus auchder Bedarf nach spiritueller Beratung. Manche Kursteilnehmer sindnach Indien gekommen, um ihrem Leben eine Richtung zu geben. Daswissen die Organisatoren und werben offen für die freiwilligeMitarbeit in ihren Zentren in Europa, wo man für Unterkunft undVerpflegung Teil des Personals wird.
"Wir sind eine große Familie", sagen die Swamis über ihreGemeinschaft. Und hängen konkrete Werbung gleich an: "In Berlinbrauchen wir noch Mitarbeiter, die gern kochen und etwas vonComputern verstehen."
Zwar wird Spiritualität groß geschrieben, doch fällt dieausgeprägte Geschäftstüchtigkeit der Organisatoren auf: Kräftigaufgeschlagen wird bei einem angebotenen Ausflug zum Taj Mahal. Unddie Yoga-Matten, die in der Ashram-Boutique anfangs für 15 Euro zuhaben waren, kosten plötzlich das Doppelte. Wer glaubt, bei demKurspreis von 1200 Euro mit Unterkunft und Verpflegung vier Wochenlang ohne zusätzliche Ausgaben auszukommen, liegt völlig falsch. Wernicht so wie die Inder mit den Fingern essen will, muss auch Gabel,Löffel oder Trinkbecher im Ort kaufen.
Endlich ist er angebrochen, der ersehnte oder gefürchtetePrüfungstag. Die Aussicht auf ein Examen weckt beim schwedischenGeschäftsmann Viktor Schulängste aus der Kindheit. "Ich habeJahrzehnte lang nichts mehr auswendig gelernt, wie soll ich mich daan Sanskrit-Vokabeln erinnern?", rätselt er. Doch auch imfortgeschrittenen Alter leistet das Gehirn Erstaunliches. Jeder kannetwas zu den 65 gestellten Fragen aufschreiben, zum Beispiel diewichtigsten Aussagen der Bagavad Gita, des heiligen Buches derHindus, oder die Sanskrit-Namen der zwölf Grundpositionen des Yoga.
Alle haben bestanden. Bei der Abschluss-Feier wird jederTeilnehmer auf die Bühne des Hauptsaales gerufen, wo er sich vor denverstorbenen Gurus der Organisation verneigt und anschließend dasheiß begehrte Yoga-Lehrer-Diplom aus der Hand des leitenden Swamis inEmpfang nimmt. Im Saal wird dazu laut geklatscht. Gewiss wird mannicht in vier Wochen zum Yoga-Lehrer, zumal auch viele Teilnehmer denKurs "nur für sich" gemacht haben.
In pädagogischer Hinsicht haben die Organisatoren jedoch ihreVersprechen gehalten. Jeder Teilnehmer durfte mehrfach in Gruppen dieLehrer-Rolle übernehmen. Diese Stunden wurden anschließend im kleinenKreis mit dem Lehrer ausgewertet. Wer tatsächlich Yoga unterrichtenwill, der ist mit diesem Lehrgang einen Schritt weitergekommen. Dasnächste Yoga-Lehrer-Ausbildungsprogramm wird bereits im Internetangekündigt. Die Organisatoren profitieren von der gegenwärtighochschwappenden Yoga-Welle - dank des weltweiten Netzes sind dieseLehrgänge innerhalb kürzester Zeit ausgebucht.



