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Teil 45  Traumatische Erfahrungen im Beruf: Wie man damit umgeht

Von Bärbel Böttcher 09.10.2016, 18:38
Es ist schwer, nach traumatischen Erlebnissen das innere Gleichgewicht wiederzufinden.
Es ist schwer, nach traumatischen Erlebnissen das innere Gleichgewicht wiederzufinden. Andreas Stedtler

Halle (Saale) - Verdammt. Nicht schon wieder. Das sind die ersten Gedanken von Alexander Arndt (Name geändert), als sich Anfang Januar dieses Jahres in der Innenstadt von N. ein Mann vor seinen Lkw wirft.

Der 31-Jährige bleibt wie gelähmt sitzen. Er sieht im Rückspiegel, wie sich Passanten um alles Notwendige kümmern, Krankenwagen und Polizei rufen. Vor seinem inneren Auge aber läuft ein ganz anderer Film ab.

Es ist gerade mal vier Jahre her. Der Berufskraftfahrer ist mit einem Kollegen unterwegs. Sie sind nur ausnahmsweise zu zweit. Auf der ungewöhnlich langen Strecke wären sonst die gesetzlich vorgeschriebenen Lenkzeiten nicht einzuhalten.

Alexander Arndt ist im Moment Beifahrer. Der 40-Tonner fährt auf einer schnurgeraden Autobahn an der Spitze einer ganzen Lkw-Kolonne. Pkw überholen auf der linken Spur. Einer steuert danach in größerer Entfernung den Seitenstreifen an.

Der Fahrer steigt aus, macht sich im Kofferraum zu schaffen. Als der 40-Tonner nah genug ist, läuft er auf ihn zu - den Kopf gebeugt, die Arme nach der Seite ausgestreckt.  Der Lkw erwischt den Mann frontal. Ein nachfolgender Autotransporter schleift ihn dann noch ein Stück mit.

Diese schrecklichen Bilder tauchen nun in der Innenstadt von N. wieder auf. Für Alexander Arndt ist sofort klar, was ihm später die Staatsanwaltschaft bestätigt: Es ist auch dieses Mal ein Selbstmord.

Warum passiert das mir?

Der junge Mann steht unter Schock. „Ich war hochgradig verwirrt, konnte es nicht fassen, was geschehen war“, erzählt er. „Ich habe mir immer wieder gesagt: Das passiert dir einmal, aber doch kein zweites Mal.“ Und immer wieder stellt er sich die Frage: „Warum passiert das gerade mir?“

Schon nach dem ersten Unfall kann Alexander Arndt kaum realisieren was, geschweige denn wie es passiert ist. „Ein paar Tage lang war erst einmal eine absolute Leere im Kopf. Alles kam mir so unrealistisch vor“, sagt er.

Ein Polizei-Psychologe hilft ihm, das Erlebte zu verarbeiten. Und nach relativ kurzer Krankschreibung sitzt er wieder hinter dem Lenkrad. Doch  drei, vier Tage später muss er sich eingestehen: Es geht nicht.

Er braucht einige Wochen, bevor er in sein altes Berufsleben zurückkehrt. Aber es ist nicht mehr wie früher. „Wenn ich unterwegs war und auf der Autobahn nur ein totes Tier gesehen habe, dann ging sofort das Kopfkino los.“ Ganz schlimm ist es, wenn er an der Unfallstelle vorbeikommt.

Alexander Arndt zieht die Konsequenz. Er verlässt die große Spedition, heuert bei einem kleineren Unternehmen an. Er nennt es seinen Rückzug ins Ländliche. Von nun an fährt er nicht mehr so weite Strecken. Ist größtenteils auf Landstraßen unterwegs. „Wenn es mal auf die Autobahn ging, dann wusste ich, in spätestens einer halben, dreiviertel Stunde fährst du wieder ab“, erzählt er.

Der junge Mann findet sein Gleichgewicht wieder. Doch dann passiert der zweite Unfall.  Der spült alles, was Alexander Arndt bisher verdrängt hat, wieder an die Oberfläche. „Ich habe gemerkt, dass ich den ersten Unfall doch noch nicht richtig verarbeitet hatte“, sagt er.

Anfangs kommt der Mann kaum zur Ruhe. Abends kann er nicht einschlafen, morgens gilt sein erster  Gedanke dem Unfall. „Das tägliche Leben hat zwar stattgefunden, aber es war, als hätte man einen Schleier vor dem Gesicht“, beschreibt er seinen Zustand.

Ihm ist klar, dass er Hilfe braucht. Und die findet er in Halle im Berufsgenossenschaftlichen Klinikum Bergmannstrost. Dr. Utz Ullmann, Leiter der Abteilung Medizinische Psychologie, beginnt nur wenige Tage nach dem schrecklichen Erlebnis mit der Behandlung. Und   Alexander Arndt fühlt sich sofort gut aufgehoben.

Der nächste Rückschlag

„Ich habe zu dieser Zeit noch gehofft, dass ich das alles wieder hinkriege, auch wenn es etwas Zeit braucht“, sagt er.  Doch 14 Tage nach dem Unfall trifft ihn der nächste Tiefschlag.

Von seinem Chef erhält er die Kündigung. „Der hatte absolut kein Verständnis für meine Situation“, erzählt er. „Von ihm habe ich nur den Spruch gehört: Stell’ dich mal nicht so an.“

Nun kommen zu den allgemeinen Ängsten, wie denn alles weitergehen soll, auch noch Existenzängste. Alexander Arndt ist froh, dass sein Therapeut  auch für solche Sorgen ein offenes Ohr hat.  „Er war am Menschen interessiert, nicht nur am Patienten“, sagt er. Und er sei auch zwischen den Therapie-Sitzungen immer ansprechbar gewesen. Telefonisch oder per Mail. „Nie habe ich das Gefühl gehabt, ein Fall unter vielen zu sein.“

In der Therapie wird alles versucht, damit Alexander Arndt in seinen alten Beruf zurückkehren kann. Dazu gehört der Besuch einer Fahrschule. Der Berufskraftfahrer hat seit dem Unfall keinen Lkw mehr von innen gesehen.

Nun, nach einigen Monaten, soll er versuchen, sich wieder daran zu gewöhnen. Doch diese Stunden werden zur Qual. „Das Schlimme bei dem zweiten Unfall war, dass ich  mit dem Mann vor seinem Aufprall noch Blickkontakt hatte“, erzählt er. „Seine Augen, die habe ich immer vor mir gesehen, wenn ich im Lkw in der Stadt unterwegs war und Fußgänger auftauchten.“

Zuerst soll Alexander Arndt nur mitfahren. Auf den Landstraßen geht alles gut. Doch sobald sich der Lkw der Stadt nähert, bekommt er Probleme. „Ich habe nicht auf die Straße geschaut, sondern nur danach, was sich rechts und links abspielt“, erzählt er.

„Und ich habe mir vorgestellt, dass gleich wieder ein Fußgänger in den Lkw läuft.“ Er wird dann immer ganz ruhig, bekommt schweißnasse Hände, obwohl er nur auf dem Beifahrersitz Platz genommen hat.  

Eins, zweimal fährt er auch selber durch die Stadt. Nach zehn Minuten ist er fix und fertig. „Es war ein Gefühl, als hätte ich den ganzen Tag Zementsäcke geschleppt.“

Alexander Arndt ist immer froh, wenn die Stunde am Mittwoch vorüber  ist. Schon montags und dienstags ist er nicht zu gebrauchen, wenn er weiß: Am Mittwoch geht es wieder los. Er lernt in der Therapie zwar Techniken, mit denen der Film, der dann jedes Mal abläuft, gestoppt werden kann. Aber das klappt nur außerhalb des Lastkraftwagens.

Umschulung als Ausweg

Dennoch helfen ihm die Sitzungen in Halle, besser mit der Situation umzugehen. Auch seine Freundin gibt ihm Kraft. „Das ist für Angehörige gar nicht so leicht“, räumt Alexander Arndt ein.

„Aber es hat einfach geholfen, eine Person an seiner Seite zu haben, die sich bemüht, zu verstehen, was in einem vorgeht. Das hat meine Freundin echt gut gemacht“, sagt er. Sie habe sich wieder und wieder mit ihm hingesetzt, „und das ganze Thema durchgekaut“. „Und wenn ich an meine Grenzen kam, dann hat sie mich in Ruhe gelassen.“

Alexander Arndt schließt in dieses Lob auch Eltern und Schwiegereltern ein. Sie sind für ihn da. Und sie finden auch die eine oder andere Beschäftigung, die ihn in der langen Zeit der Krankschreibung von Grübeleien ablenkt.

Schließlich ist er ein leidenschaftlicher Möbelrestaurator. Und dann ist da auch noch der kleine Jack Russell Terrier. Mit dem muss er auch an Tagen, an denen er zu gar nichts Lust hat, Gassi gehen.

Durch die Sitzungen am Bergmannstrost und sein verständnisvolles Umfeld stabilisiert sich Alexander Arndt. Doch es wird schnell klar: Es gibt kein zurück auf den Lkw. „Ich habe es probiert“, sagt er.

„Aber ich werde damit nicht mehr glücklich.“ Auch der Gutachter, der ihn während der Fahrschulstunden begleitet, bescheinigt ihm, dass die Therapie an dieser Stelle keinen Erfolg bringt.  

Was wie eine negative Nachricht klingt, verschafft Alexander Arndt  Erleichterung. „Mir hat es immer Spaß gemacht, unterwegs zu sein“, sagt er. Er habe Städte kennengelernt, die er sonst wahrscheinlich nie besucht hätte.

Aber nach allem, was passiert ist, betont er: „Es geht mir besser, seit ich weiß, ich muss nicht mehr auf den Lkw.“ Dabei macht sich Alexander Arndt keine Vorwürfe. „Ich konnte nichts dafür, ich konnte echt nichts dafür“, sagt er. „Ich war lediglich zur falschen Zeit am falschen Ort.“ Doch die Angst, dass so etwas noch einmal passiert, die sitzt tief.

Doch wie geht es nun weiter? Nun macht Alexander Arndt eine von der Berufsgenossenschaft bezahlte Ausbildung zum Erzieher. Drei Jahre drückt er noch einmal die Schulbank.

Seine Freundin, selbst Erzieherin, hat ihn auf diese Idee gebracht. Danach möchte er mit Kindern und Jugendlichen arbeiten, die es im Leben nicht so leicht haben. „Weil mir schon so viel passiert ist, habe ich Erfahrungen gesammelt, die ich weitergeben möchte“, sagt er.

„Ich habe erfahren, wie beruhigend es ist, in schweren Situationen einen Menschen an seiner Seite zu haben, der einen versteht, der versucht, einen aufzufangen.“ Dieser Mensch möchte er in Zukunft für andere sein.

„Am Ende“, so sagt Alexander Arndt, „hat das ganze Unglück noch etwas Positives gebracht. Bei mir ist das ein kompletter beruflicher Neuanfang.“ Er habe richtige Lust darauf. „Und weil dieses Druckgefühl weg ist, wieder Lkw fahren zu müssen, bin ich ausgeglichener.“

An den Unfall denkt er längst nicht mehr jeden Tag. Nur manchmal, wenn er einen bestimmten Typ Lkw sieht oder im Internet auf ähnliche Ereignisse stößt, dann kommt das Geschehene wieder hoch. „Man kann sich nicht total abschotten. Man muss lernen, damit umzugehen“, sagt Alexander Arndt. Dass er das heute kann, dafür ist er seinem Therapeuten Dr. Utz Ullmann außerordentlich dankbar.

(mz)

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