Gesundheitsarmbänder Gesundheitsarmbänder: Soziologe äußert im MZ-Interview Zweifel

Berlin - Lifelogging – die Aufzeichnung der eigenen Gesundheitsdaten - soll die Menschen gesünder und produktiver machen. Davon sollen die Menschen profitieren, aber auch Krankenkassen und Arbeitgeber. Eine klassische Win-win-Situation also? Der Soziologe Stefan Selke hat Zweifel. Mit ihm sprach Stephan Kaufmann.
Herr Professor Selke, wie viele Schritte sind Sie am Vortag gegangen?
Selke: Keine Ahnung.
Warum schaffen Sie sich nicht ein Armband mit einer Gesundheits-App an, das Ihre Schritte, ihr Gewicht oder Ihren Puls zählt?
Selke: Ob ich genug Sport treibe oder mich gesund ernähre, messe ich an meinem Hosenknopf: Geht er noch zu, ist alles in Ordnung. Ich brauche keinen Fitness-Tracker am Handgelenk.
Aber mit einem solchen Armband könnten Sie Geld sparen. Versicherer wie Generali bieten jetzt so genannte „Vitality“-Tarife an: Kunden sammeln ihre Gesundheitsdaten, leiten sie an den Versicherer weiter und erhalten von ihm Rabatte, wenn sie sich fit halten.
Selke: Also erstens ist mir der Gedanke unangenehm, Daten über mein Privatleben und meinen Körper an ein Unternehmen zu schicken. Zweitens stellt sich die Frage, wie sinnvoll die Daten überhaupt sind. Die pure Zahl der Schritte sagt ja nichts aus – es kommt zum Beispiel darauf an, wo man läuft, ob in frischer Luft oder im Straßenverkehr. Der Body Mass Index (BMI) gilt als quasi objektives Maß für Gesundheit – dabei sind sich auch Wissenschaftler gar nicht einig, wo der ideale BMI liegen muss, um sein Leben zu verlängern.
Aber vielleicht werden sie es eines Tages sein. Nehmen wir an, die erhobenen Daten sind aussagekräftig. Dann wäre es doch sinnvoll, wenn Menschen über finanzielle Anreize wie Versicherungsrabatte zu einem gesunden Leben gebracht werden.
Selke: Tatsächlich messen immer mehr Menschen ihre Schritte, ihre Hautfeuchtigkeit, Cholesterin- und Testoronwerte, ihr Gewicht, ihre Schlafqualität und so weiter – und die neuen Technologien helfen ihnen dabei. Ich finde diese neue Lust an der Selbstvermessung ziemlich bedenklich. Um seine Lebensführung zu verstehen und zu verbessern, könnte man ja auch einfach prüfen, wie man sich fühlt, man könnte ins Gesicht des Partners schauen oder in den Spiegel. All das sind wunderbare analoge Kontrollmechanismen.
Allerdings nicht besonders exakte…
Selke: Nein. Aber was geschieht, wenn alle nur noch auf die exakten Werte auf dem Monitor starren. Die Daten wandeln sich. Aus den puren Zahlen werden Anforderungen an den Einzelnen – Anforderungen an „richtiges“ Verhalten, „richtiges“ Aussehen, „richtige“ Leistung und so weiter.
Erklären Sie das bitte.
Selke: Beschreibende Daten sind einfach nur Zahlen: Heute morgen bin ich 1000 Schritte gegangen. Teilen alle Menschen die Daten über ihre Schritte, kann daraus ein Durchschnitt errechnet werden, es entsteht eine Norm: normal ist es, 2000 Schritte zu gehen. Im nächsten Schritt entsteht eine soziale Erwartung: Wer gesund leben will, muss 3000 Schritte gehen. Aus den beschreibenden Daten sind normative geworden, an denen sich jeder messen kann und muss. Mit 1000 Schritten ist man hinter der Norm zurückgeblieben, man hat also etwas versäumt. Ein anderer Mensch wiederum geht 5000 Schritte, hat damit die Norm übererfüllt und verdient Lob. Es entstehen digitale Versager und Gewinner. Der Druck zur Anpassung wächst.
Aber wenn jemand gern seine Daten sammeln und kontrollieren möchte, ist dagegen doch nichts zu sagen?
Selke: Im Prinzip nicht. Allerdings verstärken die neuen Sammeltechniken den Trend zum allseitigen Vergleich, zur dauernden Selbstoptimierung, zum Leben in Echtzeitfeedback. Mittels Technologie und Daten kann ich kann mich und mein Verhalten an dem der anderen messen, ich kann mich permanent verbessern und sogar bestrafen: Es gibt ein Armband, das bei Fehlverhalten Stromstöße aussendet. Damit wird alles zum Anspruch an das eigene Leben: meine Bewegung, mein Essen, mein Sex, meine Beziehungsqualität…
Auch die Liebe wird gemessen?
Selke: Versucht wird das. In den USA gibt es eine Maßzahl, den LOS, den „Loss of Spark“, übersetzt in etwa der „Verlust des Funkens“. Hier wird die Beziehungsqualität anhand von Fragebögen gemessen. Am Ende erhält die eigene Beziehung eine gewisse LOS-Punktezahl. Sinkt meine Beziehungsqualität unter einen bestimmten Wert, signalisiert das Gefahr. Klar kann man das so machen. Aber es ist der Versuch, eine große Sache wie die Liebe oder eine Beziehung klein und beherrschbar zu machen. Das Verhältnis zweier Menschen wird reduziert auf eine Kennzahl, die wir billigen oder ablehnen. Qualitäten werden durch Quantitäten ersetzt. Die Frage „Sind wir glücklich miteinander“ wird zu „Welchen LOS-Wert haben wir heute?“
Das scheint der Reiz der neuen Technologien und Datensammlungen zu sein: Sie schaffen die Möglichkeit der Kontrolle und damit Sicherheit.
Selke: Sie produzieren aber unter Umständen nur Neurosen. So gibt es Daten-Socken, die Eltern ihren Babys anziehen können. Die Socken messen die Vitalwerte des Kindes und senden sie auf die Smartphones der Eltern. Nachweislich führt das aber nicht zur Beruhigung der Eltern, stattdessen werden sie immer ängstlicher und starren auf die Daten, finden Abweichungen von der vermeintlichen Normalität und versuchen diese Abweichungen zu interpretieren: Ist das Kind schon krank oder noch gesund? Was Sicherheit bieten soll, produziert so Ängstlichkeit.
Wollen Sie Daten-Socken verbieten?
Selke: Natürlich nicht. Wenn Menschen sich dauernd messen, vergleichen und kontrollieren wollen, sollen sie das tun. Mich als Soziologen interessiert die Frage: Wie beeinflusst dies unser Zusammenleben? Mir scheint, das Prinzip der sozialen Organisation verändert sich. Wir beginnen, uns gegenseitig im Modus der Fehlerabweichung wahrzunehmen. Wer erfüllt die neuen sozialen Normen, wer fällt durch? Es regiert das „Man-Gespenst“: Das tut man so.
Unternehmen in den USA und Europa haben begonnen, die Vitaldaten ihrer Mitarbeiter zu erheben, um sie gesünder und produktiver zu machen. Wer sich an die Regeln hält, erhält Belohnungen, ähnlich wie bei den Vitality-Tarifen der Versicherer. Das scheint doch eine Sache zu sein, von der alle profitieren könnten?
Selke: Was wir hier sehen, ist die Kopplung von Daten und Chancen. Wer seine Daten zu Verfügung stellt und wer die „richtigen“ Daten hat, der hat Vorteile. Erstens entsteht damit eine neue soziale Sortierung der Menschen. Zweitens aber muss man das weiterdenken: Bislang wird jemand mit Rabatten dafür belohnt, wenn er viel joggt und seine Daten zur Verfügung stellt. Je mehr er tut, je gesünder er lebt, umso höher steigt er in der Rabatt-Skala. Es ist eine Eskalation nach oben. Das zieht den Durchschnitt nach oben, die neue Normalität stellt immer höhere Anforderungen an den Einzelnen. Wenn viele Menschen an diesen Systemen teilnehmen, wächst der Druck auf alle, ihre Daten zur Verfügung zu stellen und ihr Leben gemäß den neuen Normen auszurichten. Am Ende stünde dann die Notwendigkeit zur Umkehr der Beweislast: Der Mensch würde primär als Risiko, Fehler, als Störfall angesehen, er seine eigene Nützlichkeit und Ungefährlichkeit nachweisen muss.
Aber wenn ich mich fit halte und dafür weniger Beiträge zahlen muss, ist das doch nur gerecht. Warum soll ich so viel zahlen wie jemand, der den ganzen Tag auf dem Sofa sitzt und raucht?
Selke: Weil das dem kollektiven Versicherungsprinzip entspricht. Die Idee der Versicherung ist die einer Risikogemeinschaft. Man kann natürlich die Versicherungsbeiträge individuell gestalten, je nach Lebensführung. Aber damit vollzieht sich ein schleichender Wandel: Jeder wird für sich selbst verantwortlich gemacht: Wer krank wird, ist selbst schuld. Das ist absurd. Denn wir wissen, dass zwei Drittel aller Krankheitsursachen gar nicht aus individuellem Verhalten resultieren, sondern aus den gesellschaftlichen Verhältnissen: Armut, Schichtarbeit, unsichere Arbeitsbedingungen oder belastende Wohnverhältnisse. Die Vermessungsgeräte hingegen tun so, als hielten wir alle unser Schicksal in der Hand und müssten nur genug Sport treiben.
Die Verantwortung wandert auf die Verhaltensebene des Einzelnen. Das passt zum Trend zur Eigenverantwortung.
Selke: Das gefällt vielen Leuten sogar. Denn wer selbst verantwortlich ist, scheint die Kontrolle zu haben – öfter joggen zu gehen ist scheinbar einfacher als bessere Arbeitsbedingungen auszuhandeln. Das scheint ein Trend zu sein: Die Einkommen werden unsicherer, weder die Karriere noch die Beziehung sind planbar, die Politik ist außer Reichweite, die Wirtschaftskrise sowieso – wir schauen dem Geschehen nur staunend zu. Daher zieht man sich zurück auf die Ebene des Beherrschbaren: den eigenen Körper, die Ernährung, den Sport. Das schafft Kontrolle. Aber diese Kontrolle ist aber zum großen Teil eine Illusion. (mz)