Weltstillwoche 2025 Stillen oder Flasche? Warum Mütter heute mehr denn je verunsichert werden
Muttermilch ist der beste Start ins Leben – das sagen Expertinnen unisono. Doch Werbung, Influencer und eine riesige Babynahrungsindustrie lassen viele Eltern zweifeln. Warum Stillen in den ersten Tagen oft schwer ist und welche Rolle Marketing dabei spielt.

Magdeburg/Halle (Saale). Die meisten Schwangeren kämen ins Krankenhaus mit dem festen Vorsatz, ihr Kind zu stillen, sagt Nadine Fessel. Als zertifizierte Still- und Laktationsberaterin am Harzklinikum Dorothea Christiane Erxleben in Wernigerode unterstützt sie Mütter nach der Geburt beim Stillen. „Aber in diesen ersten Tagen zeigt sich ganz oft, wie sehr Theorie und Praxis beim Stillen voneinander abweichen“, sagt Fessel.
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„Die ersten Tage sind kompliziert“ – warum Stillen oft nicht sofort klappt
Insbesondere Erstgebärenden müsse sie oft die nicht ganz rosige Realität vor Augen halten: „Nämlich die, dass es nicht einfach ist, zu stillen, wenn man noch von der Geburt gebeutelt oder beeinträchtigt von einem Kaiserschnitt ist. Und dass wunde Brustwarzen oder anfängliche Schmerzen beim Stillen relativ häufig vorkommen“, sagt Fessel.
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„Um es klipp und klar zu sagen: Die ersten Tage sind kompliziert. Die Frauen müssen sich ganz viel ausruhen, um das zu schaffen. Und die Kinder trinken anfangs sehr unregelmäßig und sehr, sehr oft.
Marketing, Mythen und Einfluss: Wie die Babynahrungsindustrie Eltern erreicht
Aber das braucht es, um am Ende zu einer guten Stillbeziehung zu kommen.“ Aufklärung, Beratung und ganz viel Zeit: Das sind gute Voraussetzungen dafür, dass Mütter sich gerne aufs Stillen einlassen und auch dabei bleiben. Und das ist wichtig: Denn für ein Kind bedeutet Muttermilch nach wie vor den bestmöglichen Start ins Leben.
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Jedoch scheinen Mütter – trotz Willen zum Stillen – so stark wie nie gesellschaftlichen und kommerziellen Einflüssen ausgesetzt zu sein. „Eine Mutter, die ihrem Baby die Flasche gibt, ist für die meisten Menschen ein normales Bild, obwohl es eigentlich Irritationen auslösen sollte, wenn wir uns so stark von unserem Ursprung entfernen“, sagt auch Simone Lehwald.
Sie ist die Direktorin des Europäischen Instituts für Stillen und Laktation, das Teil der Nationalen Stillförderung ist. Als gewichtige Ursache für die verschobene Wahrnehmung sieht die Nationale Stillförderung die Babynahrungsindustrie.
Auch deshalb lautet das Motto der diesjährigen Weltstillwoche: „Du entscheidest. Nicht die Werbung.“ Zwar ist die Werbung für Babynahrung in Deutschland streng reglementiert: „Gerade Säuglingsanfangsnahrung darf nicht beworben werden, um das Stillen zu schützen“, sagt Lehwald. „Allerdings finden Hersteller zunehmend Schlupflöcher, um diese Regelungen zu umgehen“, sagt Lehwald.
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Ihre Kollegin Natalie Groiss, zertifizierte Stillberaterin und Referentin zum Thema WHO-Kodex, sagt: „Eins dieser Schlupflöcher nennt sich Cross-Marketing. Dabei verzichten Hersteller zwar darauf, ihre Säuglingsanfangsnahrung zu bewerben, gestalten dann aber mit derselben Aufmachung andere Produkte. Lange Zeit wurde dies bei Folge- und Spezialnahrungen so gehandhabt – bis die EU dem einen Riegel vorgeschoben hat.“
Influencer, Apps und Babyclubs: Subtile Werbung rund um die Flasche
„Daneben nutzen Hersteller online etliche Möglichkeiten.“ Mithilfe von Schwangerschafts- und Eltern-Apps, Babyclubs und Hotlines präsentieren sie sich als freundliche, stets verfügbare Unterstützung für Familien. „Ganz subtil bringen sie ihre Produkte zudem in Foren und auf den sozialen Medien unter“, sagt Groiss.
„Dort sprechen Eltern oder Influencer viel über das tägliche Chaos und berichten über ihre eigenen Erfahrungen – und lassen dabei ganz nebenbei einfließen, dass bei ihnen persönlich Pre-Milch von Marke XY gegen dieses und jenes Problem geholfen hat.“
Bei der Vermarktung setzen Hersteller viel auf sogenannte Pain Points. Diese heben das echte oder eingebildete Problem hervor und präsentieren mit dem jeweiligen Produkt direkt die Lösung. „Im Bereich der Babynahrung ist das hochwirksam, weil normale kindliche Probleme wie Blähungen, Unruhe oder Schreien emotional hochgehängt werden“, sagt Lehwald.
„Die Hersteller spielen mit der großen Angst, dass das Baby nicht satt wird oder die Muttermilch nicht verträgt – und bieten als Lösung direkt ihre Anfangsnahrung an.“
(Pseudo-)Wissenschaft als Verkaufsargument
Ausreichende Beweise für die tatsächliche Wirksamkeit gibt es allerdings nicht, wie eine Studie der WHO und des Kinderhilfswerks UNICEF 2022 zeigte. Auch (pseudo)wissenschaftliche Sprache dient als Marketinginstrument. Dabei stellen Hersteller Säuglingsnahrung ähnlich oder gleichwertig zu Muttermilch dar.
Adressaten sind nicht nur Familien, sondern auch Hebammen, Ärztinnen oder Pflegende: „Große Hersteller bieten auf ihren Homepages entsprechende Bereiche für Fachpersonal an. Dort gibt es Fortbildungen, Arbeitsmaterialien wie Still- und Schlafprotokoll-Vorlagen oder kostenlose Produkte, die während der Wochenbettbetreuung weitergegeben werden“, sagt Groiss.
„Und in diesen Bereichen gibt es etliche Studien und gut aufbereitetes Infomaterial, deren Erkenntnisse das Fachpersonal oft schnell durchliest und übernimmt. Dabei sind diese Studien, wenn man sie auf wissenschaftliche Kriterien hin abklopft, völlig unbrauchbar.“
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Auch den Umweg über allerlei Zusatzprodukte nehmen Hersteller gerne – und es scheint zu funktionieren: Groiss zufolge ist das Angebot an Säuglingsanfangsnahrung zwar konstant. „Aber Zubehör und Folgenahrungen haben zugenommen“, sagt Groiss. „Da gibt es zum Beispiel eine Bio-Variante, eine Anti-Reflux-Variante, eine Anti-Bauchweh- und eine Besserer-Schlaf-Variation.“
200 Flaschen, 200 Sauger – ein undurchdringlicher Produkt-Dschungel
Eine Studie unter der Leitung der Münchner Ernährungswissenschaftlerin Melissa Theurich identifizierte 2024 mehr als 200 verschiedene Babyflaschen und über 200 Sauger-Varianten.
Dazu kommen Babyflaschen-Zubereiter, die ähnlich wie eine Kaffeemaschine die Flaschenzubereitung zum stylischen und komfortablen Ereignis machen. „Das Angebot ist unübersichtlich und selbst für Fachpersonen nicht leicht zu überblicken“, sagt auch Lehwald.
Gleichzeitig vermittelt es den Gedanken, dass es für das kindliche Wohlergehen unbedingt ein Spezialprodukt braucht – ein Gedanke, der auch in anderen babynahen Bereichen vorherrscht.
Eltern bekommen so das Gefühl vermittelt, dass sie unweigerlich den undurchdringlichen Dschungel an Produkten und Angeboten durchkämmen müssen, um die ideale Lösung für das eigene Kind zu finden.
Was Eltern wirklich brauchen: Zeit, Geduld und ehrliche Beratung
Dabei ist die Lösung denkbar einfach. Die beste Nahrung für ein Kind ist und bleibt Muttermilch – auch weil sich ihre Zusammensetzung im Lauf der Stillbeziehung immer genau an den Bedarf des Babys anpasst.
Nadine Fessel, die Stillberaterin aus Wernigerode, ist sich sicher, dass Frauen anstelle von immer neuen, noch innovativeren Produkten eigentlich etwas ganz anderes brauchen: „Sie brauchen fachliche Kompetenz, eine Hand auf der Schulter und jemanden, der ihnen immer wieder gut zuredet und ihnen sagt, dass sie ihren eigenen Weg finden dürfen, ohne Druck von außen.“
Das gilt sowohl für eine Entscheidung fürs Stillen als auch für die Entscheidung dagegen. „Und wenn sie sich fürs Stillen entscheiden, braucht es viel Geduld, Zeit und Vertrauen in den eigenen Körper – dann klappt auch das Stillen in den allermeisten Fällen.“