Zwischen Hirn und Jetzt Zwischen Hirn und Jetzt: Herbert Grönemeyer verzaubert in der Arena Leipzig

Leipzig - Kurz vor 20 Uhr liegt ein Raubtier namens Fanbegeisterung in der rappelvollen Arena Leipzig auf der Lauer. Der 62-jährige Herbert Grönemeyer wird gleich über 30 Songs spielen. Heiße Erwartungen am Montagabend, es brandet und vibriert.
Sekundenglück. So heißt der Opener, es ist ein Stück vom aktuellen Album „Tumult“, das im November letzten Jahres das Licht der Welt erblickte. Genug Zeit, um den Text zu verinnerlichen. Genug Zeit, um ihn jetzt, vom ersten Ton an, dem Künstler in Form eines Massenchores entgegen zu atmen.
Grönemeyer in Leipzig: Das Publikum geht sofort mit
Grönemeyer, schwarze Hose, schwarzes T-Shirt, schwarzes Jackett und weiße Schuhe, funktioniert sofort. Das Raubtier wird zur Bestie, heftig und erbarmungslos. Jetzt will das Publikum die Beute, Grönemeyer hat die ganz dicken Kollektiv-Ohrwürmer im Gepäck, manche sind schon saftige 35 Jahre alt.
Im „Sekundenglück“ heißt es euphorisch aufbrausend: „Ich sehe mir heute verdammt ähnlich / Und irgendwie finde ich das auch schön.“ Grönemeyer wird fortan, beinahe drei volle Stunden, von einer unfassbaren Energie getragen.
Alles muss raus: Jubel und Tränen, Schmerz und Seelenheil. Hier versucht kein Entertainer die Geneigten Schritt für Schritt anzuwärmen. Nein, hier spielt man von Anfang an zusammen, Gänsehautmomente im Minutentakt. Grönemeyer turnt auf einem Laufsteg immer wieder ins Publikum, seine achtköpfige Band steht unter dem warmen Licht diverser Straßenlaternen auf der Bühne. Der Künstler streckt die Arme aus, er inhaliert den Jubel, die Menge spendet neben unzähligen Chören immer wieder eine Atmosphäre der Dankbarkeit, des Respekts.
So bündeln sich die Erinnerungen und Jahre, so vergewissert man sich der gegangenen Wege. Gleich der zweite Song „Bist du da?“ kämpft hymnisch mitreißend um jede Stimme, die sich dem „wirren Hetz- und Hass-Gewühl“ entgegenstellt: „Bist du da, wenn Seelen verwaisen? / Bist du da, wenn zu viel Gestern droht? / Wenn wir verrohen, weil alte Geister kreisen?“ Grönemeyer spricht davon, dass „wir in einer wackligen Verfassung sind“, er betont den Virus der Diskursverschiebungen, die herzlichen Grüße an Plasberg und Co. kann man sich hart, aber fair hinzudenken.
Grönemeyer in Leipzig mit Haltung und alten Hits
Grönemeyer will mit Ruhe, Freude und Lust Haltung zeigen, im neuen Song „Fall der Fälle“ heißt es: „Sie verschiebt nie ihre Grenzen, sie bewacht den Übergang / Belauert die Signale, dass ihre Seele nicht erkrankt / Sie mischt sich ein / Aber keinen Millimeter nach rechts.“
Natürlich werden die Klassiker von der Leine gelassen: „Bochum“, „Männer“, „Was soll das?“. Manchmal rahmt Grönemeyer seine Hits in ein Medley, manchmal tollt er mit ihnen ausgelassen umher. Er wirft sie in die Luft, er herzt und küsst sie. Von „Alkohol“ über „Mensch“ bis „Land unter“: so mancher Evergreen bekommt eine bislang unbekannte Stimmlage, da variieren die Texte, ab und an setzt eine neue Instrumentenbegleitung ein.
Welch ein seliges Knödeln und Jaulen, was für ein Triumphzug! Es wird getanzt und gefeiert, ruhige Nummer wie „Halt mich“, „Und immer“ oder das berührende „Der Weg“ setzen Spannungspunkte. Grönemeyer läuft hin und her, vor und zurück, da mal ein schwingendes Beinchen, hier mal ein sexy ironisches Hüftkreisen – mit den Händen im Nacken.
Was für eine Energie, die Arena als Tollhaus. Ein Konzert als Familientreffen, es finden drei Generationen zueinander. Mit dem Berliner Rapper BRKN wird zum deutsch-türkischen „Doppelherz/Iki Gönlum“ geladen, es gibt 80er Jahre Rock, der Song „Bleibt alles anders“ bündelt auch visuell elektronische Einflüsse. Auf den beweglichen Videoleinwänden zeigen sich Naturaufnahmen, computeranimierte Reisen ins Universum oder Live-Aufnahmen des Konzertgeschehens.
Im neuen Song „Meine Lebensstrahlen“ heißt es treffend: „Zwischen Hirn und Jetzt / Mit Liebe besetzt.“ Der geschichtliche Blick aus dem Lied „Stück vom Himmel“ wird mit kathedraler Wucht geschmettert: „Die Erde ist freundlich / Warum wir eigentlich nicht?“
Lange Zugaben - Leipziger feiern Grönemeyer
Einmalige Situationen gibt es während der ausgiebigen Zugabenrunden. Da verneigt sich der Saal vor einem Lebenswerk, da fliegen die Blumen der Liebe, Grönemeyer lässt mit einer Hildegard Knef-Hommage aufjaulen: „Für mich soll's rote Rosen regnen“. Anschließend grummelt er während des Bückens über seine zu enge Hose. Der Zauber der Bodenständigkeit. Wurde er jemals schöner veranschaulicht?
Und was sind das für Szenen, in denen der Meister am Klavier nicht starten kann, weil das Publikum gerade einen minutenlangen „Oh, wie ist das schön“-Chor vorträgt. Sekundenglück. Das Raubtier und die Beute – so eine beidseitig beglückende Symbiose sieht man in den Mehrzweckhallen der Republik selten. (mz)