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Walter Jens Walter Jens: «Redner der Republik» wird 85 Jahre alt

Von Wilfried Mommert 07.03.2008, 08:30

Berlin/Tübingen/dpa. - «Ich bin ein bürgerlicher Demokrat, der sich nicht an den Karren fahren lässt», beschrieb sich der ebenso rhetorisch geschulte wie bibelfeste Tübinger Philologe und Publizist einmal selbst. Am Samstag wird Jens 85 Jahre alt. Manche sehen in ihm heute «den letzten großen Intellektuellen der Republik», einen «public intellectual», einen «öffentlichen Intellektuellen» also, wie man im Englischen sagt, um den es allerdings in den letzten Jahren krankheitsbedingt ruhiger geworden ist.

Der seit seinem dritten Lebensjahr an schwerem Asthma leidende Jens ist an Mikro-Angiopathie erkrankt, «eine Gefäßerkrankung, die auch das Gehirn ergriffen hat und dort Ausfälle provoziert», wie seine Frau Inge Jens der Deutschen Presse-Agentur dpa sagte. «Mein Mann ist fast vollständig in seiner eigenen Welt versunken, kann weder lesen noch schreiben noch so sprechen und formulieren, dass man Zusammenhänge verstehen und nachvollziehen könnte. Kommunikation auf der rationalen Ebene ist nicht mehr möglich. Sehr wohl hingegen auf der emotionalen, und in dieser Hinsicht versuchen wir, ihn gut zu versorgen.»

Der sprachmächtige Aufklärer und Christ («Der gute Mensch von Tübingen» hieß ein Arte/SWR-Fernsehporträt von Andreas Ammer) brilliert mit einem Bildungskanon des Universalwissens, der Staunen macht - vom Neuen Testament und altgriechischen Tragödien über Philosophie bis zur Mondlandung oder den von ihm so geliebten Fußball («ein königliches Spiel mit allen Unberechenbarkeiten des Lebens»). Selbst als kritischer Fernsehzuschauer war Jens 20 Jahre lang als «Momos» für die Wochenzeitung «Die Zeit» aktiv.

Der Autor und «homme de lettre» (Bücher- und Geistesmensch) war einer der Protagonisten der legendären Schriftstellervereinigung «Gruppe 47». Immerhin war Jens in der Nachkriegszeit zunächst als Dichter mit einigem Erfolg hervorgetreten («Nein. Die Welt der Angeklagten»). Später übersetzte er Evangelien aus dem Neuen Testament, erzählte die Odyssee nach und widmete sich dem «Fall Judas», den er ungerecht beurteilt sieht. Viele Neuauflagen erlebte sein Standardwerk «Statt einer Literaturgeschichte» von 1957. Jens habe einen «literarischen Blick» und ein Sprachniveau in die Bibelauslegung eingeführt, «die es so vorher nicht gab», meint Karl-Josef Kuschel in der Neuausgabe seines Buches «Literat und Protestant» (Attempto Verlag Tübingen) zum 85. Geburtstag von Jens.

Aber er prägte wie nur wenige vor allem als gesellschaftspolitisch engagierter Moralist und Pazifist das geistige Nachkriegsdeutschland im Spannungsfeld von Macht und Geist, in dem sich der frühere PEN-Präsident und Präsident der Berliner Akademie der Künste zuhause fühlt - auch als «Zwerg, der auf den Schultern des Riesen steht». Jens sieht die Künstler in der Gesellschaft auch stets im Spannungsfeld von «solitaire» und «solidaire», der Dialektik von «einzeln/einsam» und «gemeinsam». Beliebt seien sie in Deutschland aber nie gewesen, vielleicht «nützliche Botschafter».

Aber unverdrossen trat der Tübinger Professor, der es - ungewöhnlich genug für seine Zunft - zu einiger Popularität in Deutschland brachte, auch immer wieder kulturpolitisch hervor. Ein Spannungsfeld ist für Jens auch Deutschtum-Christentum-Judentum, vor allem aber «Christsein heisst auch politisch sein». Immer war Jens bisher aneckend oder anregend, beides ist ihm recht. Mit Emile Zolas Dreyfus-Parole «J'accuse!» (Ich klage an) meldete sich Jens zu Wort, wo immer er das Recht mit Füßen getreten sah oder zu Unrecht Verfolgte oder Benachteiligte Unterstützung suchten - von Sitzblockaden vor Raketenstützpunkten bis zur Aufnahme von US-Soldaten, die den Kriegsdienst im Irak verweigerten.

Künstler müssten immer «unsichere Kantonisten» sein und die Stirn bieten können, darin war sich Jens einig mit Weggefährten wie Heinrich Böll oder Günter Grass. Wie jene oft auch als moralische Instanz angesehen, musste sich Jens im hohen Alter auch kritisch selbst befragen lassen, als die «Wahrheit der Karteikarte» (wie es Peter Wapnewski im eigenen Fall nannte) über ihn kam und seine NSDAP-Mitgliedschaft als junger Mann offenbar wurde. «Kann ein 18-Jähriger nicht lernen?» fragte er später. Er sei wohl mit vielen anderen Angehörigen der Hitlerjugend «summarisch» in die Partei überführt worden. «Hätte ich mich anders verhalten können? Dazu fehlte mir der Mut.»

Und da gibt es noch einen anderen Grund für manche seiner Zunft und ihn eingeschlossen, sich selbstkritisch zu befragen, wenn es um die damaligen Dissidenten hinter dem «Eisernen Vorhang» ging, die er und andere Schriftstellerkollegen lange sich selbst überließen, wie er später freimütig einräumte - «daran gibt es kein Vorbeimogeln, da haben wir versagt».

Mit Hilfe seiner Frau Inge Jens, der Herausgeberin der Thomas-Mann-Tagebücher als Nachfolgerin von Peter de Mendelssohn, kam Jens im hohen Alter von 80 Jahren noch zu unverhofften Bestseller-Ehren, mit der gemeinsam verfassten und spannend zu lesenden Biografie «Frau Thomas Mann - Das Leben der Katharina Pringsheim», die sich besser verkaufte als so manche Thomas-Mann-Biografie. «Zusammen waren wir gut», sagte Walter Jens in der Zeitschrift «Sinn und Form» dazu, es hat aber auch «oft gekracht», fügt sie hinzu. Die Eheleute Jens waren zu der Zeit schon 55 Jahre verheiratet - länger als die Manns.