Tokio Hotel Tokio Hotel: Die Schatten tonnenschwer

Halle (Saale)/MZ. - Klapperdürr die Beine. Im Gesicht eine Brille, groß und dunkel wie die Frontscheibe eines Van. Das Kinn ist bartstoppelig, aus der Nase hängt ein Ring, die Lippe ist gepierct und die linke Hand unterm Dandyhandschuh mit einem Skelett-Tattoo verziert.
Bill Kaulitz, Sänger und Gesicht der Magdeburger Rockband Tokio Hotel, erschreckt die alten Fans in der Heimat auf neuen Fotos, die Paparazzi an seinem derzeitigen Wohnort Los Angeles gemacht haben. Der sanfte, kindliche Junge, der vor sieben Jahren mit dem Lied "Durch den Monsun" Mädchenherzen zu Zehntausenden brach, wirkt getrieben, unstet, auf der Suche nach einem Leben nach dem frühen Ruhm. Fünf Jahre ist es her, dass Tokio Hotel zum letzten Mal ein Single auf Platz 1 der Hitparaden bringen konnten. "Übers Ende der Welt" hieß das Lied damals, es war die vierte Nummer 1-Single von Bill Kaulitz, seinem Bruder Tom, Bassist Georg Listing und Schlagzeuger Gustav Schäfer.
Und es blieb der einzige Top-Hit aus dem zweiten Album. Das Debüt hatte noch drei abgeworfen. Der Nachfolger "Humanoid" lieferte dann gar keinen mehr und hielt sich auch nicht mehr 64 Wochen in den Charts wie das Debüt, sondern nur noch 17.
Das Quartett, nach einem Auftritt des damals 13-jährigen Bill Kaulitz bei der Castingshow "Star Search" vom Produzenten Pat Benzner entdeckt und von David Jost, ehemals bei der Boyband Bed & Breakfast, konsequent zu einer Art Düstervariante der handelsüblichen Teenie-Truppen ausgebaut, wurde zwar immer noch mit Preisen überhäuft. Aber die Texte, die Bill Kaulitz sich abrang, ließen tief blicken: "Wenn du lachst, lachst du nicht, wenn du weinst, weinst du nicht, wenn du fühlst, fühlst du nichts", sang der Mädchenschwarm nach drei Jahren Menschenkäfig aus Umsatzerwartungen, Liebesprojektionen und Galadinnerapplaus.
Es seien "ganz normale Teenagerprobleme", die er in seinen Texten abarbeite, versicherte Kaulitz. "Wir machen nicht so traurige Songs, weil wir aus dem Osten sind", dementierte er jeden Einfluss der Herkunft auf die Kunst.
Mag das auch am Anfang gestimmt haben, später konnte Bill Kaulitz nicht mehr über "normale Teenager" texten, weil sein Leben sich von dem der ehemaligen Mitschüler und Nachbarskinder unterschied wie das einer Katze von dem einer Maus. Doch der Fluch des frühen Ruhms machte es den Magdeburgern auch schwer, sich im Alltag der Prominenz einzurichten.
Teenieband zu bleiben war von Anfang an keine Option, denn die Mädchen-Generation, die die vier Halbwüchsigen anfangs mit orkanischem Kreischen feierte, war bei der letzten Konzertreise schon alt genug, das Bill-Kaulitz-Poster an der Wand als kindliche Schwärmerei abzutun. Der Sound, der Schülerinnen begeisterte, erreicht die Studentinnen nicht mehr. Hallen blieben halbleer, Fanseiten im Internet schliefen ein.
Im Stück "An Deiner Seite" haben die Kaulitz-Brüder, neben denen Bassist und Trommler - bandintern nach ihren Vornamen "The Gs" gerufen - immer nur die Statistenrolle ausfüllen mussten, das Schicksal derer beschrieben, die jung hoch aufsteigen. "Dein Leben sinnentleert, Deine Schatten tonnenschwer und alles was Du jetzt brauchst, hast Du nicht", heißt es da aus dem Mund des 22-jährigen Millionärs Bill.
Ein Jammer, der Tradition hat. Die Amerikanerin Shirley Temple etwa avancierte mit zehn Jahren zum bestbezahlten US-Kinostar. Mit 20 beendete sie ihre Karriere. Ähnlich ging es Hendrik Simons, der als zwölfjähriger "Heintje" das Lied "Mama" sang und damit die meistverkaufte Single in Deutschland landete. Um schon mit 20 ein erstes Comeback mit auf Afrikaans gesungenen Liedern in Südafrika versuchen zu müssen.
Kinderstars, die erwachsen werden, fangen nicht bei Null an, sondern tief im negativen Bereich. Ihre Namen sind bekannt und verbrannt, ihr Image ist festgelegt, und das meist nicht von ihnen selbst. Auch Lindsay Lohan startete mit zwölf als "Ein Zwilling kommt selten allein". Sie bezauberte, kassierte Spitzengagen. Und machte mit 20 Schlagzeilen, als sie mit dem Gesetz in Konflikt geriet und dafür ihre Alkohol- und Drogensucht verantwortlich machte.
Ein Lied, das auch die gebürtige Thüringerin Radost Bokel singen könnte. Mit fünf reiste sie in den Westen aus, mit elf spielte sie die "Momo" in der gleichnamigen Michael Ende-Verfilmung. Mit 22 zog sie sich dann erstmals für ein Magazin aus. Um mit 37 ein Zoten-Zelt im Dschungelcamp zu beziehen, der Endlagerstätte für Prominente, die ihre Zukunft hinter sich haben.
Verantwortlich dafür sind meist nicht mangelnde künstlerische Fähigkeiten oder falsche Berater, sondern eine Kombination aus Abwärtsdynamik des Erfolges und verzweifelten Versuchen, gegenzusteuern. Natürlich kann, wer wie Tokio Hotel mit einer Serie von Nummer-1-Hits startet, nicht erwarten, nun die nächsten 50 Jahre nur Nummer-1-Hits zu landen. Im Popgeschäft aber ist dieses Wissen Theorie, sobald die Vermarktung des neuen Album geplant wird: Es muss, was muss, und wenn es nicht geht, dann ist es zu spät. Kinder spielen in den Vermarktungsketten der Popkulturindustrie eine festgelegte Rolle. Rebellieren sie gegen das Drehbuch, geht es ihnen wie Robbie Williams, der die Casting-Gruppe Take That verlassen musste, als er das Leben eines Popstars auch hinter der Bühne lebte.
Sex und Drogen passten nicht ins Konzept einer Formation, die fluffige Hits für ein Kinderzimmerpublikum liefern soll. Sein Karriereende feierte Williams mit noch ausgiebigeren Exzessen, zusehends verwahrlost zog er um die Häuser. Bis ihm mit "Angels" nach zweieinhalb Jahren nicht nur ein grandioses Comeback, sondern der Startschuss zu einer neuen, selbstbestimmten Karriere gelangt.
Zweieinhalb Jahre sind inzwischen auch Bill und Tom Kaulitz in den USA verschwunden, um mit ihrem Mentor David Jost an einem neuen Album zu arbeiten. Anfang November vergangenen Jahres meldeten die beiden Brüder sich zum letzten Mal selbst per Videobotschaft auf ihrer Homepage, um den Fans mitzuteilen, dass intensiv an neuen Stücken gefeilt werde.
Seitdem ist Stille, Schweigen, von einem Sologastspiel des bartstoppeligen Bill Kaulitz bei der Band Far East Movement abgesehen. Auf deren neuer Single singt der knochenmagere Magdeburger mit. Das Lied heißt "If I die tomorrow". Wenn ich morgen sterbe.