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Schriftsteller Martin Walser im Interview Schriftsteller Martin Walser im Interview: "Nietzsche liebe ich sehr"

15.10.2015, 08:41
Unterwegs am Ufer des Bodensees: Martin Walser, Schriftsteller
Unterwegs am Ufer des Bodensees: Martin Walser, Schriftsteller patrick seeger/dpa Lizenz

Nussdorf/Naumburg - An diesem Sonnabend nimmt der Schriftsteller Martin Walser in Naumburg den erstmals verliehenen Internationalen Friedrich-Nietzsche-Preis entgegen. Der 88-Jährige wird für sein Lebenswerk geehrt, das die ständige Beschäftigung mit dem Denken Nietzsches einschließt. Mit dem in Nußdorf am Bodensee lebenden Schriftsteller sprach unser Redakteur Christian Eger.

Herr Walser, als Sie vor fünf Jahren Ihren Computer fragten, wie oft Nietzsche in Ihrem Werk vorkomme, antwortete der: 732 Mal. Ist Nietzsche der von Ihnen am meisten erwähnte Autor?

Walser: Zweifellos, das ist gar keine Frage. Da täuscht sich der Computer nicht.

Sie erwähnen Nietzsche häufiger als Goethe?

Walser: Goethe verehre ich wirklich, Nietzsche liebe ich sehr.

Warum ist Nietzsche für Sie so wichtig?

Walser: Das ist für mich ganz einfach und trotzdem sage ich das ungern sozusagen laut weiter, weil das nicht so leicht zu beweisen ist, was ich da sage: Er ist für mich der größte deutsche Schriftsteller. Er ist der Schriftsteller, den ich am längsten und am häufigsten lese. Ich habe zum Beispiel aus gewissen Gründen zehn Jahre lang Kierkegaard gelesen. Ich lese immer noch und immer wieder Dostojewski. Und ich lese Platon. Am häufigsten aber lese ich Nietzsche.

Der neu geschaffene Internationale Friedrich-Nietzsche-Preis wird gemeinsam von der Friedrich-Nietzsche-Stiftung (Naumburg), der Elisabeth Jenny-Stiftung (Riehen/Schweiz) in Zusammenarbeit mit der Stadt Naumburg, der Bürgergemeinde Basel sowie der Nietzsche-Gesellschaft alle zwei Jahre verliehen und ist mit 15 000 Euro einer der höchstdotierten Preise für essayistische und philosophische Werke. Er löst den zwischen 1996 und 2012 vergebenen Friedrich-Nietzsche-Preis des Landes Sachsen-Anhalt ab.

Die Jury ehrt Martin Walser für sein Lebenswerk, weil „er einer der wenigen deutschen Schriftsteller der Gegenwart mit Weltgeltung“ ist, „der sich unentwegt an Nietzsches Problemen als Problemen abarbeitet und nicht bloß gelegentlich seine Bücher mit Nietzsche-Zitaten garniert“.

Martin Walser, 1927 in Wassserburg am Bodensee geboren, gehört zu den bedeutendsten deutschsprachigen Erzählern der Gegenwart (u. a. „Ein fliehendes Pferd“, „Die Verteidigung der Kindheit“, „Ein springender Brunnen“). Im Januar erscheint sein neuer Roman „Ein sterbender Mann“.

Friedrich Nietzsche wurde 1844 in Röcken (Burgenlandkreis) geboren, wuchs in Naumburg und Schulpforta auf, lebte u. a. in Basel, Turin und Sils Maria und starb 1900 in Weimar. Die Verleihung des Preises erfolgt im Zuge des dreitägigen Nietzsche-Kongresses am Sonnabend um 20 Uhr im Nietzsche-Dokumentationszentrum in Naumburg.

Warum?

Walser: Seine Ausdrucksweise, sein Stil, seine Sprache, seine Genauigkeit. Da bin ich - Entschuldigung -, weil ich Autor bin, anspruchsvoll und empfindlich. Und ich weiß, ich habe nirgends so viel Lesefreude wie bei Nietzsche. Er bereitet keine Mühen. Es gibt keinen Schwierigkeitsgrad. Kant ist ja auch ein großer philosophischer Schriftsteller, aber trotzdem macht er Sätze, die muss man manchmal zweimal lesen, bis man weiß, was er meint. Das kommt bei Nietzsche nicht in Frage. Er ist so genau.

Zum Beispiel?

Walser: Ich habe das jetzt wieder am „Zarathustra“ gesehen. Es gibt kein Buch in der deutschen Sprache, in dem vom Menschen, von uns, so genau und so direkt gesprochen wird wie in diesem Buch. Wenn Zarathustra zum Beispiel über das Mitleiden spricht, dann sagt er, er will nicht in der Nähe des Menschen sein, der sein Mitleiden weckt. Er will nicht erkannt werden als der, der Mitleid hat, weil er den Stolz des Menschen nicht verletzen will, dadurch, dass er mit diesem Mitleid hat. Das ist ein Gedankengang, der wird so ungeheuer genau dargestellt, das gibt es nur bei ihm. Nur bei Nietzsche.

Sie werden in Naumburg über Nietzsche als Mutmacher reden. Wem kann Nietzsche Mut machen?

Walser: Dem, der ihn lesen kann. Gut, das ist eine Sache, die findet beim Lesen immer statt. Das findet bei Dostojewski statt. Bei Platon. Dass man, wenn man etwas liest, was einen ganz von selber  - ja es ist ein großes Wort - erhebt, verstehen Sie? Da nehmen Sie plötzlich teil an Gedanken, zu denen Sie allein nicht fähig wären. Sie merken aber, dass Sie als Leser zu diesen ungeheuren Gedanken fähig sind. Und das macht Ihnen Mut, so zu denken. Das ist eine Ermutigung. Dadurch, dass du das verstehst, empfindest du es selber ein bisschen auch als eine eigene Leistung.

Das Gegenteil ist doch auch bekannt. Sagen wir Hegel, den ich auch schon gern gelesen habe, der kann einen auch entmutigen, weil er so verschraubte Sätze macht, dass man denkt: Oh, da habe ich gar nichts davon! Und da denkt man, da bin ich dran schuld, dass ich das nicht verstehe. Das ist das Gegenteil, das ist die Entmutigung. Und bei Nietzsche findet andauernd die Ermutigung statt.

Auf der nächsten Seite lesen Sie, was Martin Walser von den Nietzsche-Gedenkstätten hält.

Woran liegt es, dass Nietzsche hierzulande kein literarischer Klassiker geworden ist, kein Autor, mit dem man selbstverständlich umgeht, sondern dem man distanziert begegnet?

Walser: Also davon weiß ich nichts. Was ist denn ein Klassiker, wenn Nietzsche kein Klassiker ist?

Er ist ein Autor für Wenige, gesellschaftlich ohne Breitenwirkung.

Walser: Davon habe ich keine Ahnung. Für mich ist er der absolute Klassiker. Aber weil Nietzsche hauptsächlich als Philosoph gefühlt wird, ist er zum Beispiel in der fabelhaften Bibliothek Deutscher Klassiker nicht enthalten. Was natürlich ein grotesker Irrtum ist. Da hätte er hineingehört.

Im Ausland, etwa in Frankreich oder Asien, wird er stärker zur Kenntnis genommen als hierzulande.

Walser: Ich könnte mir vorstellen, dass er - ich übertreibe ein bisschen - leichter zu übersetzen ist als Hegel. Aber der Aussage, dass er kein Klassiker sei, kann ich mich nicht anschließen.

Es gibt kein Nietzsche-Gymnasium in Deutschland.

Walser: Ja, gut. (lacht) Darauf sage ich lieber nichts. Das ist grotesk, verstehen Sie. Das liegt einfach daran, dass Nietzsche zu kühn, zu frech, zu groß ist. Und zu wenig schubladenmäßig verwertbar. Und vielleicht, das ist das letzte Vielleicht, obwohl es ein trauriges Vielleicht wäre: Vielleicht hat es damit zu tun, dass er kein geistiges System wollte und auch keines geschaffen hat. Er hat das zum Schluss von sich selber erwartet und verlangt, und er ist dazu nicht gekommen. Ich kann nur sagen: Gott sei Dank! Wenn er ein System hinterlassen hätte, so wie Kant oder Hegel, dann wäre er leichter verwertbar.

Sie kennen die Nietzsche-Stätten in Naumburg: das neue Dokumentationszentrum, das alte Wohnhaus, in dem Nietzsche Jahre seiner frühen Jugend und seiner späten Krankheit verbrachte. Welchen Eindruck haben Sie von dem Ort?

Walser: Das Nietzsche-Haus ist einfach liebenswürdig, da ist man gerührt. Da möchte man jeden Quadratzentimeter lange anschauen dürfen. Und das neue Nietzsche-Zentrum ist gewaltig, und das soll auch so sein. Vielleicht hilft es dem Besucher, ihn dann als Klassiker zu sehen, wenn er so ein Zentrum hat. Auf jeden Fall macht Naumburg da etwas, was die Welt Nietzsche schuldig ist.

Was schuldet die Welt Nietzsche?

Walser: Ich verbessere mich: Was schulden wir Nietzsche? Wir, seine Leser! Wir sind ihm, entschuldigen Sie das große Wort, Ehrerbietung schuldig. Ehrerbietung, das ist die Stimmung, die Haltung, in der sich Philologie und Begeisterung vereinen. Und sie vereinen sich, um Nietzsche zu feiern. Und dafür, dafür muss es eine Stätte geben, und eben das ist das Nietzsche-Zentrum in Naumburg.

Herr Walser, gestatten Sie zum Schluss einen kurzen Blick auf Deutschland. Wie erleben Sie die Gesellschaft unter dem Zustrom von Flüchtlingen?

Walser: Was ich jetzt sage, heißt nicht, dass es so sei, aber so kann man es auch sehen: Was uns da passiert, das ist für mich eine Prüfung. Ich weiß auch, dass es keine Weltregierung gibt und dass der Himmel ziemlich leer ist, aber das alles hier wirkt so, als würde jetzt Europa geprüft auf seine Gültigkeit als humaner Kontinent. Durch diese Flüchtlingszahlen wird jede Ökonomie, jede Verwaltung erschüttert. Unsere Vertreter in Staat und Regierung werden durch diese Provokation geprüft auf Herz und Nieren, beziehungsweise auf den Gültigkeitsgrad ihrer Humanität. Und es ist doch ganz klar, ich will da keinem einen Vorwurf machen, aber Sie sehen jetzt den Unterschied zwischen Merkel und Seehofer.

Die Kanzlerin sagt: Wir schaffen das.

Walser: Sie hat uns Mut gemacht. Oder? Und der Seehofer hat den Skeptiker gespielt. Und da muss ich sagen, wenn das eine Prüfung ist, dann hat die Merkel die Prüfung besser bestanden als der Seehofer. Und dass wir das schaffen, das ist doch klar. (mz)