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Rolf Schneider Rolf Schneider: Abwärts, in die Finsternis

Von ANDREAS MONTAG 09.09.2009, 19:17

HALLE/MZ. - Es wird viel gestorben in diesem Roman: Selbstmorde in Serie, das langsame Töten durch Tabletten und Suff, Verdämmern im Wahnsinn und schließlich ein Sprung des Helden von der titelstiftenden Marienbrücke - Rolf Schneider erspart sich und seinen Lesern nichts. Abwärts, in die Finsternis der deutschen und DDR-deutschen Geschichte führt dieses Bilanzstück, am Ende nimmt einen der tiefe, faktenreich und oft auch erzählerisch beglaubigte Pessimismus des Autors sehr gefangen.

Dabei lassen sich gute Gründe dafür finden, das Buch nicht vollkommen gelungen zu nennen, in Teilen ist es sogar misslungen. Das liegt unter anderem daran, dass der mehr als 400 Seiten starke Wälzer für die Fülle an Stoff, der hier ausgebreitet und gehandelt werden soll, einen noch größeren Umfang vertragen haben würde. Oder Schneider hätte sich eben mit weniger Material begnügen müssen, um Kolportage zu vermeiden.

Hinzu kommt die Struktur des Buches, eine zweisträngige Konstruktion, die erst gegen Ende wirklich aufgeht, wenn die Linien zusammenführen. Alternierend erzählt der Autor das Leben Jacob Kerstings in chronologischer Folge und aus der Sicht des ausgewachsenen Kunsthistorikers, der aus dem kleinen Jacob geworden ist. Letztere Episoden beginnen mit einer Westreise des Ostberliners, die ihm sein Staat zu Recherchen für ein Buchprojekt spendiert hat.

1988 ist es, der Sozialismus fault und stinkt, Kersting fühlt sich wohl im morbiden Charme Wiens, auch wenn er die nicht beendeten (oder noch nicht einmal begonnenen) Debatten um den Anschluss Österreichs an das "Dritte Reich" natürlich bemerkt. Hinter ihm liegt eine verkorkste Ehe mit der verzweifelt saufenden Tochter eines verdienten Altgenossen, dessen Frau im stalinistischen Lager umgekommen ist - und der sich am Ende als Verräter an der Kunst entpuppen wird. Ein Gemaßregelter selbst, der in den 50er Jahren den sogenannten Formalisten unter Pseudonym die Beine weggetreten hat.

Bögen wie dieser, die Schneider über Jahrzehnte hinweg schlägt, haben große Spannung. Auch der des Jungvolkführers Rohwedder, dem Jacob in Grotenweddingen (gemeint ist unzweifelhaft Wernigerode, wo Schneider aufwuchs) zu folgen hat, den er später als stalinistischen Einpeitscher wiedertrifft und der schließlich Presseoffizier bei der Bundeswehr wird. Deutsche Karrieren. Schneider bündelt sie, mit grimmiger Lust. Dazu erzählt er von Nazi-Lehrern und verdorbenen Pfarrern, Liebesnöten und Kriegsfolgen, ein Kaleidoskop deutscher Geschichte.

Alles, was über den Werdegang des Knaben Jacob in Kriegs- und Nachkriegszeiten erzählt wird, ist allemal spannender als die Wanderungen des erwachsenen Kersting durch Wien. Er trifft Menschen, besichtigt Gebäude und Geschichte - in einer gewissen Beliebigkeit, die angesichts des übrigen Stoffes, des Entwicklungsromans, der hier eigentlich erzählt werden will, umso bedauerlicher ist, weil sie das Lesevergnügen bremst.

Am Ende wird Kersting, dem der Ehemann seiner vormaligen Geliebten das Lieblingsbuchprojekt weggeschnappt hat und dessen Sohn zum Neonazi mutiert, in einen Puff gehen, wo er einen Porno sieht, während ihm eine Dame im Bikini körperliche Erleichterung verschafft. Dann springt er ins Wasser - wohl deshalb, weil er der Schwächling ist, der er ist. Und stirbt natürlich nicht. Kersting ist einer, der selbst auch die Hand gehoben hat, als man Andersdenkende jagte. Und dem so gar nichts von seinem Vater Robert anhaftet, dem Anarchosyndikalisten, der mit den Nazis wie den Russen Ärger bekommen hat. Ein Typ, von dem man gerne mehr erfahren hätte.

So bleibt am Ende ein zwiespältiger Eindruck von diesem Buch, das gleichwohl Fahrt gewinnt, wenn man sich nur eingelassen hat. Gewiss kein Jahrhundertbuch, eingedenk seiner Schwächen. Aber ein Höllenritt in die deutsche Geschichte ist es schon.