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Ost-Alarm! Ost-Alarm!: SPD will sich um Jammer-Ossis kümmern - und scheitert

Von Christian Eger 16.11.2018, 09:00
Ministerin Köpping 2016 in Clausnitz: „Was man braucht, würde ich den ,Kümmerer‘ nennen“.
Ministerin Köpping 2016 in Clausnitz: „Was man braucht, würde ich den ,Kümmerer‘ nennen“. jan wojtas/dpa

Halle (Saale) - Wer hat’s erfunden? Helmut Kohl! Im Sommer 1994 wurde der „Jammer-Ossi“ geboren - als propagandistische Figur im CDU-Bundestagswahlkampf. Es ging darum, die „Probleme im Osten“ zu „Problemen des Ostens“ zu machen - und nicht etwa zu west- oder gesamtdeutschen.

Dabei sollte die Symbolfigur des Verlierers helfen, der nach westlicher Leistung schreit, statt sich selbst zu helfen, ermittelte der Historiker Philipp Ther. Die Ostländer waren öffentlich als einzige Regionen mit Reformbedarf zu markieren. Die Rechnung ging auf, mit tätiger Unterstützung der Parteibasis im Osten.

Aus dem Jammer-Ossi soll der Kraft-Ossi werden

Kohl ist Geschichte. Der Jammer-Ossi bald. Denn den will Petra Köpping offenbar durch eine Art Kraft-Ossi ersetzen. Die sächsische SPD-Frau, die seit 2014 als Ministerin für Gleichstellung und Integration dient, zitiert Philipp Ther in ihrer Ost-Streitschrift.

Die trägt den Titel „Integriert doch erst mal uns!“ Am Rande einer Pegida-Demonstration, die die 60-Jährige beobachtete, hatte ihr ein Herr genau das gesagt. Da begriff Köpping, dass es gar nicht in erster Linie um Flüchtlinge gehe. Die seien eine Projektionsfläche für eine tiefere Kritik, schreibt die aus Nordhausen stammende Politikerin, die bis Sommer 1989 SED-Mitglied war.

Der „Ost-Alarm“ ist in der politischen Mitte angekommen

Der Befund, dass die ostdeutsche Unzufriedenheit als ein Kompensations-Effekt für Erfahrungen der Benachteiligung begriffen werden muss, ist nicht neu. Aber erst seit Frühjahr gewinnt er an politischer Kraft. Es herrscht Ost-Alarm! Nicht mehr nur bei der Linken. Nicht allein bei der AfD. Erstmals auch bei der SPD.

Wie auf Knopfdruck entdecken bislang als Ostler wenig kenntliche Politiker ihre Herkunft - die Ostkarte, die zu spielen ist, seitdem der Ost-Wähler nicht mehr einfach mitspielt.

Petra Köpping spielt diese Karte mit Schwung. Man erfährt zwar nicht, warum die seit 1990 als Bürgermeisterin, Landrätin und Landtagsabgeordnete wirkende Dauer-Politikerin das Ost-Thema nicht schon bei ihrer täglichen Arbeit vor 2016 wahrgenommen hatte, aber dass sie von ihrem plötzlichen Einsatz sehr viel hält, teilt sich mit. Köpping glaubt, dass sie mit einer 2016 gehaltenen Rede die Nachwendezeit als Thema in die Öffentlichkeit „zurückgeholt“ habe.

Köpping greift in Buch Ost-Probleme auf

Wie auf einen Bierdeckel gekritzelt, bietet ihr Buch die seit 2017 diskutierten Ost-Probleme: Treuhand, Marktbereinigung, das Verschwinden der Ostler aus ihren Institutionen. Alles tippt Köpping an. Und notiert Einfälle, die nach Linkspartei klingen.

Es müsse mit den Ostlern „geredet“ werden, damit „Genugtuung“ entstehe; es brauche „Kümmerer“. Gefordert wird ein „Geständnis“ der „westdeutschen Politik und der Wirtschaft“, dass man nach 1990 die „potenzielle Ostkonkurrenz“ beiseitegeräumt hätte.

„Wahrheitskommissionen“ in Sachen Treuhand werden verlangt. Effektheischende Forderungen, die nichts kosten. Dazu gibt es sozialpolitische Tipps. Die eine Frage aber, warum das „Misstrauen in und die Distanz zu Demokratie und Politik“ im Osten so groß sei, stellt die Autorin mehrfach, beantwortet sie aber nie. Das ist auch nicht das Interesse dieser von Wiederholungen vollen, mit Zeitungslektüren aufgefüllten Rede, die um die Hälfte zu lang ist, aber nach einer Kürzung kein Buch mehr wäre.

Kämpft SPD auf verlorenem Posten?

Dessen Kalkül ist klar. Die SPD nimmt den Kampf um die von ihr verlorenen Ost-Milieus auf. Da darf man vor Populismus nicht zurückschrecken; man weiß ja nicht, was wirkt. „Bleiben wir Ossis! Seien wir stolz darauf!“, rempelt Köpping den Leser an. Die DDR erscheint ihr als ein Hort von „Zusammenhalt“ und „relativer Gleichheit“.

Ressentiments gegen die neue, auch ostdeutsche Mittelschicht werden in Stellung gebracht: „In der DDR war Hochkultur etwas für jeden Geldbeutel. Wurde das neuerdings nur etwas für feinere Herrschaften, die sich für die Elite hielten?“ Das ist alles so falsch, dass nicht einmal das Gegenteil richtig ist. Dass die heutige SPD kulturfern ist, wusste man. Aber dass es so tief geht?

Ost-Alarm von Verpuffung bedroht

Dass „niemand“, wie Köpping behauptet, bislang die „konkreten“ Ost-Probleme benannt hätte, ist falsch. Aber darum geht es nicht. Zum Jammer-Ossi kommt der Ossi-Poser hinzu. Dafür gab es bislang die Links-Partei. Aber Demokratie lebt vom Wechsel.

Noch deutet nichts darauf hin, dass der Ost-Alarm anhält, dem dieses Buch folgt, das in kurzer Zeit vier Auflagen erlebte. Als Angela Merkel ihren Rückzug als Kanzlerin ankündigte, wurde sehr vieles, aber nirgendwo, auch im Osten nicht, reflektiert, dass damit die einzige ostdeutsche Stimme an der deutschen Politik-Spitze verstummt. Was zeigt: Deutschland ist, wenn es zum Schwur kommt, mehr herrschafts- als Ost-West-fixiert.

Petra Köpping: Integriert doch erst mal uns!, Ch. Links, 208 S., 18 Euro

Für Freunde der Ost-Debatte: Am 4. Dezember 20 Uhr diskutiert Halles Oberbürgermeister Bernd Wiegand im Literaturhaus Halle die Frage, „wie“ der Osten sei mit Jana Hensel und Wolfgang Engler („Wer wir sind: Die Erfahrung ostdeutsch zu sein“). Eintritt frei.

(mz)