Ex-Minister reden Klartext Olaf Jacobs: Die Staatsmacht, die sich selbst abschaffte - Ex-Minister der DDR reden Klartext

Halle (Saale) - Nicht viel mehr als 130 und für manche auch 175 Tage dauerte das letzte Kapitel der 40-jährigen DDR-Geschichte. Die im März 1990 eilig gewählte Regierung des früheren Kirchenmusikers Lothar de Maiziére trat ihr Amt im April an. Und sie hatte eigentlich nur eine Aufgabe: Die Arbeiter- und Bauernrepublik zum Tag der deutschen Einheit besenrein übergeben.
Eine Selbstmordmission, wie die Frauen und Männer beschreiben, die als Volkskammerpräsidentin, Ministerpräsident oder Ministerinnen für immer die Letzten ihrer Art bleiben werden. Sie alle waren Amateure, manche wie SPD-Außenminister Markus Meckel oder DSU-Innenminister Peter-Michael Diestel durchaus machtwillig. Andere dagegen, wie Landwirtschaftsminister Peter Pollack, blieben in ihrer Amtszeit durchgehend verwundert über das Amt, das ihnen die Geschichte da plötzlich zugespielt hatte.
Die letzten DDR-Minister: Vom Staatsfeind zum Entscheider
Politiker, die keine sind, regieren einen Staat, der keiner mehr sein will – die Einblicke, die der vom Leipziger Filmproduzenten Olaf Jacobs herausgegebene Interviewband „Die Staatsmacht, die sich selbst abschaffte“ gibt, zeigen einen in der Historie einmaligen Vorgang aus der Innensicht. Während es draußen auf den Straßen brodelt, die Menschen politisiert sind wie nie und kaum noch staatliche Institutionen anerkannt werden, sitzen die letzten DDR-Minister vor einem Berg Abwicklungsarbeit.
Unter normalen Umständen wäre das alles überhaupt nicht zu schaffen gewesen, sagen Sabine Bergmann-Pohl, eine aus Eisenach stammende Ärztin, der wehrdienstverweigernde Pfarrer Rainer Eppelmann, der Verteidigungsminister wird, bis hin zum Merseburger Karl-Hermann Steinberg, der als Umweltminister eher wie ein Industrieabschaltminister amtiert. Aber es sind eben keine normalen Umstände, wenn ein Staatsfeind die Sicherheitsbehörden führt und eine Dozentin aus Wengelsdorf als Handelsministerin dafür sorgen muss, dass 16 Millionen Menschen Essen auf dem Tisch haben.
Die Minister a.D. sprechen Klartext
Mehr als ein Vierteljahrhundert Abstand tut den Berichten der Protagonisten dieser letztlich 174 Tage langen Zwischenzeit gut. Ohne noch Rücksicht auf Empfindlichkeiten von Parteien und früheren Kollegen nehmen zu müssen, sprechen die Minister a.D. Klartext. Überfordert sind sie gewesen. Anfangs oft allein beim Versuch, den übernommenen SED-treuen Verwaltungsapparat auf die neue Linie zu bringen.
Es ist immer zu viel Arbeit und immer zu wenig Zeit, die Hilfe aus dem Westen bleibt undurchsichtig und die Spielregeln müssen in der laufenden Partie gelernt werden. Als Parlamentspräsidentin Bergmann-Pohl per Fax mit einer Ablehnung des Einigungsvertrages im Parlament droht, wenn nicht eine Versorgung der Volkskammerabgeordneten vereinbart werde, sticht das Büro ihrer Bundestagskollegin Rita Süssmuth das Papier sofort an die Presse durch.
De Maiziéres Amateurtruppe kämpft, während sie gleichzeitig mit Stasivorwürfen umgehen muss
Es sind diese Details, die die Berichte interessant machen. Wenn Lothar de Maiziére seinen Anspruch beschreibt, in den Einheitsverhandlungen mit Helmut Kohl keinen „Kaufvertrag, sondern einen Gesellschaftsvertrag“ zustandezubringen, schwingt die leise Ahnung mit, dass die andere Seite auch mit einem Kauf zufrieden gewesen wäre.
De Maiziéres Amateurtruppe kämpft, während sie gleichzeitig mit Stasivorwürfen umgehen muss, LPG-Bauern demonstrieren und die riesigen Industriekombinate immer mehr Mitarbeiter auf die Straße setzen. „Nicht vergnügungssteuerpflichtig“, nennt Lothar de Maiziére diese Zeit und aus heutiger Sicht würde er sich und seine Minister doch mit „Zwei bis Drei“ benoten. „Wir waren unendlich fleißig und haben vieles auch richtig eingeschätzt.“
Markus Meckel sieht bei der DDR-Regierung im Rückblick viel Unseriosität am Werk
Vieles auch nicht, aber es gab keine Vorbilder, keine Muster und immer nur einen Versuch, wie Peter-Michael Diestel sich erinnert, der den Deutschen aus heutiger Sicht ein „Defizit in Dankbarkeit“ attestiert. Diestels Ministerkollege Markus Meckel, der zuletzt als Präsident des Volksbundes Deutsche Kriegsgräberfürsorge amtierte, ist weit weniger zufrieden.
Der Sozialdemokrat sieht bei der DDR-Regierung im Rückblick viel Unseriosität am Werk. Auch schmerzen den im Sommer 1990 im Vorfeld des Bundestagswahlkampfes von seinem Amt zurückgetretenen Ex-Außenminister bis heute spürbar persönliche Verletzungen. Dass ihm die Entwürfe der DDR-Seite zum Einigungsvertrag nicht von seinem Ministerpräsidenten und Koalitionspartner zur Einsicht gegeben wurden, sondern er sie informell aus dem Bonner Kanzleramt bekam, das hat Meckel nie verwunden. (mz)