Neuerscheinung Neuerscheinung: Das Märchen lehrt träumen
HALLE/MZ. - Die ernsthafte Hinwendung zum Märchen ereignete sich denn auch für Franz Fühmann, der 1922 in Rochlitz geboren wurde und 1984 in Ostberlin gestorben ist, weniger über persönliche als über gesellschaftliche und poetische Zwänge.
Nach schwersten weltanschaulichen und gesundheitlichen Krisen fiel 1973 für den 51-jährigen DDR-Schriftsteller alles ineinander: der Beginn eines nunmehr als "gültig" begriffenen Schreibens, der Rückbau ideologischer Sichtblenden, eine Neudefinition der privaten Poetik. Dokument dieser Verwandlung ist Fühmanns Ungarn-Tagebuch "Zweiundzwanzig Tage oder die Hälfte des Lebens", eines der wichtigsten Gedanken- und Bekenntnisbücher der deutschen Nachkriegs-Literatur.
Erstmals finden sich hier systematische Reflexionen Fühmanns zum epischen Genre des Märchens, das er gegen den Mythos in Stellung bringt. "Im Märchen geht es immer eindeutig gerecht zu, im Mythos gibt es verschiedene Gerechtigkeiten." Und: "Das Märchen lehrt träumen; der Mythos leben. Das Märchen gibt Trost; der Mythos Erfahrung." Der Mythos gilt ihm als Medium der Unordnung und Gefahr, das Märchen als Gefäß der Ordnung und Erbauung. Soll letzteres Ziel der Literatur sein?
Es ist eine anregende, geistreich unterhaltende Lektüre, die Fühmann bietet und die der hallesche Germanist Jürgen Krätzer dem Leser nun neu zugänglich macht. Unter dem Titel "Märchen für Erwachsene" hat Krätzer zusammengetragen, was Fühmann bis zu seinem Tod in belletristischer, publizistischer und pädagogischer Hinsicht am Märchen entlang erarbeitet hat: Hörspiele, Aufsätze, Gedichte, Briefe, Essays. Das Arbeits- und Lebensbuch eines Schriftstellers liegt hier vor: ernsthaft, kunstfreudig und problembesessen.
Dabei meint Märchen für Erwachsene: Märchen ohne Happy End. Fabelhafte Prosastücke, in denen das Mythische als Grauen einbricht, man könnte auch sagen: realistische Märchen. "Das blaue Licht" zum Beispiel erzählt von einer jungen Frau, die in Folge einer Massenvergewaltigung mutmaßlich während des Dreißigjährigen Krieges zu einer "Hexe" geworden ist. Nicht "Wie siegt das Gute?" heißt hier die Frage, sondern: "Wer rädert wen?" Märchen ohne Propaganda also, zu denen auch "Rumpelstilzchen" und das aus dem Nachlass gehobene Hörspiel "Von dem Machandelboom" zählen. Zeitgleich mit dem Ungarn-Tagebuch veröffentlichte Fühmann 1973 den Aufsatz "Das mythische Element in der Literatur", den Krätzer mit in seiner Sammlung präsentiert. Immer deutlicher konturiert sich hier die poetische und politische Dimension der Fühmannschen Märchen-Hingabe. "Die Akteure - ob Menschen, ob Fabelwesen - sind im Märchen frei von inneren Widersprüchen, und darum ist es dort auch die Gesellschaft..." Und: "Der Mythos gibt den Widerspruch wieder, das Märchen schafft ihn weg."
Eben auch das Märchen des "Sozialistischen Realismus". Denn Fühmann redet über seine Gegenwart, wenn er von Mythen und Märchen spricht. Es geht ihm um eine begründete, dem wahren Leben gewachsene Poetik. Eine, die das sittlich nicht Eindeutige, das menschlich Unbedingte einschließt. Alles andere wäre Propaganda, Erbauung, "läppisches" Zeug. Volksmärchen minderer Klasse, in denen die Figuren der jeweiligen Gegenwarts-Propaganda die Schweinehirten der Grimm-Ära ersetzen.
Man hat zuweilen den Eindruck, dass das "Märchen" bei Fühmann etwas schlecht wegkommt, dass er es überfordert, in dem er es gegen sein Wesen "aufwerten", ja recht eigentlich erziehen will. Fühmanns Versuche jedenfalls, das Märchen - etwa "Das blaue Licht" - "mythisch" zu beleben, schaffen zwar kulturhistorisch reizvolle Schauergeschichten, das "Märchen" im Märchen aber schaffen sie ab.
Für sein eigenes Schreiben verdankt Fühmann dem Märchen viel: Er gestattet sich neben realistischen auch phantastische Erzählebenen; er streift politische Rücksichtnahmen ab ("die Wahrheit des Sagens ,was ist' befreit"); verzichtet auf sittliche Einlassungen. Mit seiner Erhellung von "Mythos" und "Märchen" jedenfalls hat Fühmann ein Muster gefunden, mit dem sich bis heute die Literatur in realistisch (mythisch) oder propagandistisch (märchenhaft) scheiden lässt.
Franz Fühmann: Märchen für Erwachsene. Hörspiele, Essays und andere Texte. Herausgegeben von Jürgen Krätzer. Hinstorff Verlag, Rostock, 359 Seiten, 16,90 Euro.