Nationalsozialismus Nationalsozialismus: Held aus der Halbwelt
Halle/MZ. - Einige Jahre später dann galt Horst Wessel, ein junger Mann mit kurzer, aber bewegter Lebensgeschichte, als "Blutzeuge der Bewegung" - ein Vorzeigenazi, nach dem Straßen und Truppenteile benannt, dem Denkmale errichtet und Staatstrauerakte gewidmet wurden.
Ein Nachruhm, der dem Sohn eines Pfarrers nicht in die Wiege gelegt worden war, wie Daniel Siemens in seiner detailverliebten Untersuchung "Horst Wessel - Tod und Verklärung" beschreibt. Ehe Wessel am Abend des 14. Januar 1930 in seiner Wohnung von mehreren Aktivisten der Arbeiterbewegung erschossen wurde, war der ursprünglich aus Bielefeld stammende Berliner einer von vielen niederen SA-Führern, die in Berlin an vorderster Front den Straßenkampf der Rechten mit den Bataillonen der Linken organisierten.
Wessel arbeitete nicht regelmäßig, er neigte der Halbwelt zu, seine Freundin war eine zumindest ehemalige Prostituierte. Andererseits aber glühte das Herz des von Weltverbesserungsphantasien getriebenen Romantikers für die nationalsozialistische Idee. Früh war Hitlers Propagandachef Goebbels auf den bedingungslosen Gefolgsmann aufmerksam geworden, Wessel selbst verklärte den Kampf der braunen SA-Truppen um die Straßen wenig später mit seinem Gedicht "Die Fahne hoch, die Reihen fest geschlossen", das als "Horst-Wessel-Lied" später offizielle Partei- und inoffizielle deutsche Nationalhymne werden sollte.
Der Tote aber hatte den geringsten Anteil daran, dass er von den Nationalsozialisten ähnlich benutzt wurde wie der "kleine Trompeter" in Halle von den Kommunisten. Wessel könne, so frohlockte Goebbels schon nach einem Besuch am Sterbebett, "ein neuer Märtyrer für das Dritte Reich" werden. Damit erst beginnt politische Instrumentalisierung des Mordes, der auch ein gewöhnlicher Kriminalfall ohne politischen Hintergrund gewesen sein könnte.
Statt Wessel wegen seiner Gesinnung zu bestrafen, wie das Gericht im Prozess später annehmen wird, hätten die Täter auch von persönlicher Rache wegen des Streits um ein Freudenmädchen oder rückständige Mietzahlungen getrieben sein können. Hier wird die oft aktenstaubige Geschichte des "Blutzeugen" bei Daniel Siemens wirklich lebendig.
Wenn er das Milieu im Berlin der 20er Jahre beschreibt, in dem Rot und Braun einander aus strikt abgegrenzten Revieren überfallen, wobei weniger Ideologie als Verwandtschaften oder Freundschaften darüber entscheiden, wer auf welcher Seite kämpft. Erstaunlich auch, was Siemens über die Nachlass-Streitigkeiten zwischen den Wessels und der Reichspropagandamaschine herausgefunden hat, infolge derer die Familie Wessel zuerst zu einigem Wohlstand aufstieg, später aber mehr und mehr in Ungnade fiel.
Die Wessel-Attentäter lebten zu diesem Zeitpunkt schon nicht mehr. 1930 noch zu Haftstrafen verurteilt, nimmt das System nach der Machtübernahme gründlich Rache an ihnen: Der Todesschütze wird von SA-Männern erschossen, zwei Mittäter werden in einem zweiten Prozess zum Tode verurteilt und hingerichtet.