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MZ-Interview mit Nicola Hümpel MZ-Interview mit Nicola Hümpel: Sehnsucht nach mehr

23.12.2010, 17:43

BERLIN/MZ. - Geboren 1967 in Lübeck, studierte Nicola Hümpel an der Hochschule der bildenden Künste Hamburg. Früh begann sie mit Performances und ist heute eine auch international gefragte Regisseurin. Mit ihr sprach unser Redakteur Andreas Montag.

Frau Hümpel, Ihr Theater unterscheidet sich deutlich von dem, was man in Deutschland zu sehen gewohnt ist. Wie ist ihre poetische Konfession entstanden - rührt sie von einem Kindheitstraum her?

Hümpel: Ich kann mich erinnern, dass Theater in meiner Kindheit eine gewisse Rolle gespielt hat, aber je älter ich wurde, desto weniger konkret wurde diese Vorstellung. Als ich an der Kunsthochschule studierte, war mir überhaupt nicht klar, wohin mich mein Weg einmal führen würde.

Was war das Besondere an Ihrer Kindheit?

Hümpel: Was mich in meiner Kindheit sicherlich prägte, war das Gefühl, bestimmten Kreisen nicht anzugehören - was die meisten Künstler wohl verbindet. Bestimmte Formen der Realität entsprachen nicht meiner Welt. Meine Mitmenschen kamen mir häufig unecht vor, Gedanken und Worte schienen so oft im Widerspruch zur Mimik, zum sonstigen Ausdruck des Körpers zu stehen.

In der Pubertät ist das besonders extrem, alle wollen gleich sein, die gleiche Kleidung tragen, die gleiche Musik hören, einer Gruppe angehören. Das führt zu merkwürdigsten Verstellungen.

Das hat Sie erschreckt?

Hümpel: Ich war ein ziemlich fantasievolles, wildes Kind. Mir kam diese Zeit der Anpassung furchtbar anstrengend vor, was auch Leiden bedeutete, denn ich wollte natürlich auch dazugehören. Dies irgendwann einmal zum Ausdruck bringen zu können, war sicher schon früh meine Sehnsucht. In welcher Form, das war mir allerdings nicht klar.

Wie haben Ihre Eltern reagiert?

Hümpel: Meine Eltern haben mich sehr gefördert. Sie haben mir frühzeitig Malstunden, Geigen- und Tanzunterricht ermöglicht. Hinzu kommt ein verrückter theatralischer Freidenker-Vater, der mit seiner Mischung aus Joyce-Lektüre, Thomas Bernhard, Wagner-Begeisterung und einer Auseinandersetzung von Ché Guevara bis Adolf Hitler unser Leben bestimmt hat.

Und die Mutter?

Hümpel: Meine Mutter war eine gebildete, sehr weltoffene und liebevolle Frau, mein Vater ein leidenschaftlicher, kunstinteressierter Mann, der trotz seiner künstlerischen Veranlagungen Arzt geworden war.

Sind Sie ein Einzelkind?

Hümpel: Nein, wir waren drei Mädchen, geboren im Abstand von jeweils einem Jahr.

Und Sie waren...

Hümpel: ...die Jüngste, natürlich. Was mich übrigens auch sehr stark geprägt hat, waren die politischen Diskussionen bis hin zu den Auseinandersetzungen um die Deponie Schönberg jenseits der Grenze, wo der Westen seinen Giftmüll billig im Osten verklappte. Meine Eltern gründeten damals mit Freunden die erste Bürgerinitiative.

Sie sind in Lübeck aufgewachsen, einer kulturgeschichtlich reichen Stadt, die nach der deutschen Teilung im Zonenrandgebiet lag. Wie haben Sie das wahrgenommen?

Hümpel: Das war verrückt. Wir waren am Strand und haben auf das andere Ufer geblickt, neben dem Priwall, einer Halbinsel, lag der Oststrand, von dem wir wussten: Dort darf keiner hin. Und die Wakenitz, ein traumhaft schöner Fluss, hatte ein verbotenes Ufer. Dort war Grenzgebiet, da gab es Minen. Und gelegentlich hörten wir von Menschen, die auf Luftmatratzen aus der DDR geflohen waren.

Das Thema DDR hat Ihre Familie beschäftigt?

Hümpel: Besonders wichtig war die Initiative "Rettet die Wakenitz", die den Skandal um die Deponie Schönberg aufgedeckt hat. Diese Gruppe aus mehreren Lübecker Familien mit meinem Vater als Sprecher hat es geschafft, den Fall bis in das ZDF zu bringen und damit in ganz Deutschland bekannt zu machen. Das hat eine große Kraft in mir freigesetzt: Wenn man eine Idee hat und sie verfolgt, kann man auch etwas verändern.

Sie sind frühzeitig auch mit Politik konfrontiert worden.

Hümpel: Sagen wir so: Zum Idealismus erzogen. Es gab einen Kernsatz in unserer Familie: Nichts ist schlimmer, als zu verhausschweinen. Das heißt, es ging darum, Dinge so zu gestalten, wie man sie für richtig erachtete. Natürlich stimmten auch die materiellen Bedingungen. Ein Arzt im Westen verdiente gut in den 80er Jahren. Insofern konnten wir es uns leisten, idealistisch zu sein und künstlerischen Neigungen nachzugehen.

Und dann hat sie endlich das Theater "erwischt".

Hümpel: Ich bin sehr oft ins Theater gegangen. Eines meiner wichtigsten Erlebnisse war der "Parzival" von Robert Wilson mit 16 Jahren. Das war noch vor Beginn meines Kunststudiums, da habe ich gespürt, hier gibt es etwas Großes. Theater kann mehr sein als das psychologische Erzählen einer Geschichte, es gibt einen Theaterrausch, eine Theaterdroge, ein Bildertheater, das alle Sinne anspricht.

Um Wilson zu sehen, mussten Sie nach Hamburg fahren.

Hümpel: Genau, ins Thalia Theater. Hamburg ist ja nur 60 Kilometer entfernt von Lübeck. Das Lübecker Theater war hingegen weniger prägend. Später, als ich an der Hochschule für bildende Künste in Hamburg studierte, sah ich auf Kampnagel und am Schauspielhaus alle, die damals wichtig waren: Peter Brook, Stein, Zadek, Pina Bausch, Ariane Mnouchkine. Das war eine sehr prägende Zeit für mich, obwohl Theater damals noch gar nicht auf meinem Plan stand.

Wohin sollte die Reise denn gehen?

Hümpel: Mir genügten die einzelnen Disziplinen nicht: Malerei, Plastik. Ich wollte die Dinge zusammenführen und fing mit kleinen Installationen und Happenings an. Die Mitspieler waren Studenten, Kommilitonen. 1990 kam ich dann ans Bauhaus nach Dessau. Dort lernte ich die Arbeit von Achim Freyer kennen, der ähnlich wie Robert Wilson und Peter Brook demonstrierte, wie die verschiedenen Künste, wie Sprache, Bewegung, Mimik, Licht, Kostüm und Klang zusammengebracht werden konnten. Auch wenn ich heute teilweise eine große Distanz zu diesen Arbeiten empfinde, war es damals die Bestätigung: Ich wollte mit diesen Mitteln die Kommunikation von Menschen untersuchen.

Ein eigenes Kunst-Gebäude sollte es werden?

Hümpel: Wir, Oliver Proske und ich, sprechen gern von "radikal-poetischen Denklandschaften", die den Zuschauer einladen sollen, sich mit seinen Erfahrungen und Gefühlen darin zu bewegen. Wir bauen eine intime Situation, in der es vor allem darum geht, Fragen zum Menschsein zu stellen, nicht die großen Antworten zu geben.

Das muss erst einmal verkraftet werden von den Akteuren und dem Publikum, das überwiegend andere Seh-Erfahrungen hat.

Hümpel: Klar, wir fordern ein wenig mehr vom Publikum als zu konsumieren. Es soll sich kreativ einlassen. Auch die Schauspieler müssen sich die Abende immer wieder neu erarbeiten, können sie nicht einfach reproduzieren.

Wie erarbeiten Sie Ihre Stücke?

Hümpel: Durch viel Improvisation. Normalerweise wird am Theater ein Text, eine Rolle in eine Szene umgesetzt. Wir beginnen mit einer Haltung. Ich versuche herauszufinden, wie dieser Akteur leben will. Worin ist er stark? Und dann erst interessiert mich, aus dieser Haltung einen Text zu entwickeln, einen Text für ihn zu finden.

Sie arbeiten verstärkt mit Musik. Macht das die Umsetzung Ihres Konzepts nicht komplizierter?

Hümpel: Nein. Die Musik verbindet stark, sie gibt den Rhythmus vor. Oft haben Schauspieler ja Schwierigkeiten damit, die Länge der Pausen zu bemessen, es fehlt ihnen das Rhythmusgefühl.

Und in der Pause muss ja zudem auch etwas passieren...

Hümpel: Genau. Auch aus diesen Gründen macht mir die Arbeit mit Musikern soviel Freude. Gerade bereiten wir unsere Rossini-Produktion vor - mit dem jungen Londoner Dirigenten Nicholas Jenkins, der mit Feuereifer dabei ist - wie eine Mischung aus Mick Jagger und Herbert von Karajan. Er ist auf der ewigen Suche nach dem authentischen Stimmenklang, so wie ich nach dem glaubwürdigen Ausdruck des Körpers und der Sprache suche.

Rossini - hätten Sie sich das vor zehn Jahren vorstellen können?

Hümpel: Unbedingt. Ich war auf einem Musikgymnasium und der klassischen Musik immer sehr zugeneigt. Außerdem ist Rossini ein wahnsinnig komischer Komponist. Die Messe hat er zum Ende seines Lebens geschrieben, weil ihn Freunde dazu überredet hatten.

Es ist ein unglaublich charmantes Werk geworden mit tiefen, sakralen Momenten und solchen, in denen der Komponist gleichsam um die Ecke schaut und sich über den Glauben und die Kirche lustig zu machen scheint. Das ist das Spannende an dieser Arbeit, sie hat einen Übertitel: Glaubensbekenntnisse des 21. Jahrhunderts.

Glaubensbekenntnisse?

Hümpel: Es geht weniger um den kirchlich gebundenen Glauben. Jeder Mensch aber hat über seine ökonomische Existenz hinaus eine Sehnsucht nach mehr. Ob sich das in Kirchgängen, Yoga oder Wellnessdiäten äußert, viele sind auf der Suche nach einer Ersatzreligion, um über das Alltägliche hinaus einen Sinn zu stiften. Mich interessiert diese Suche nach dem Mystischen und dem Ritual.

Die Aufklärung hat ausgedient?

Hümpel: Ich glaube, dass der freie Wille durch die Abhängigkeit von den elektronischen Medien immer stärker eingeschränkt wird, ohne die wir alle nicht mehr auskommen. Wir laufen tatsächlich Gefahr, den über Jahrhunderte erworbenen Freiheitsraum wieder zu verlieren. Ich erlebe selbst, wie wir häufig nur noch reagieren statt zu agieren. Die ökonomische Krise verstärkt zudem den Existenzdruck, der die Menschen glauben lässt, alle Möglichkeiten ausschöpfen zu müssen.

Eine unbehagliche Lage.

Hümpel: Ja, aber wir können auch beobachten, wie viele alte Rituale, von denen man dachte, sie seien ausgestorben, plötzlich wieder zurückkehren. Es werden Märchen vorgelesen, Plätzchen zu Weihnachten gebacken... Hier, im Prenzlauer Berg, lebt inzwischen eine ganze Generation, die diese alten Werte wiederbelebt - nicht nur im Positiven.

Das hat auch reaktionäre Züge. Und es geht auch um Abgrenzung.

Hümpel: Absolut. Integration wird immer schwieriger, weil jeder in seiner heilen Welt sein Schäfchen ins Trockene bringen will. Ich finde auch die ganze Sarrazin-Debatte respektlos und abstoßend. Wer fragt nach den deutschen Akademiker-Kindern, die in faschistische Verbände eintreten oder Amok laufen, weil sie als Schlüssel- und Fernsehkinder Anschluss an eine Gemeinschaft suchen oder nach Aufmerksamkeit schreien?

Respekt ist ein Schlüsselwort Ihrer Arbeit?

Hümpel: Ja. Was mir widerstrebt, ist, mit den einfachen Mitteln der Provokation zu belehren. Für mich sind zum Beispiel die Mittel der Bühne genauso begrenzt wie ihre Maße. Wenn auf die Bühne gekotzt wird - was soll der Haferschleim? Es ist lächerlich. Mir geht es darum, die Fantasie anzuregen, die mit ihren Träumen und Abgründen weit über die Bühnengrenzen hinausgehen kann. Und das hat für mich in der Tat auch etwas mit Respekt vor dem Zuschauer zu tun.

Das war auch ein Glaubensbekenntnis. Und wie halten Sie es selber mit der Religion?

Hümpel: Ich glaube jedenfalls an etwas, das außerhalb meiner biologischen Funktion stattfindet. Es gibt keinen Gott in meinem Leben, aber ein Gewissen, das mich begleitet und lenkt. Und ich glaube auch, dass wir mit unserem Instinkt weit mehr leisten können, als wir uns oft zutrauen. Auch im Künstlerischen. Frei nach Beuys: Jeder kann ein Künstler sein. Und ich glaube an das Mystische im Menschen.

Und Sie feiern auch Weihnachten?

Hümpel: Ja, diesmal mit Freunden und der Familie. Ich habe auch nichts gegen eine gewisse weihnachtliche Beschaulichkeit. Was mich nur abstößt, ist zwanghafte Harmonie. Doch wenn ein ganzes Land zur gleichen Zeit mehrere Tage lang frei hat, gibt es eben auch andere Begegnungen als im Alltag und die Möglichkeit einer Vertiefung in der Kommunikation. Das kann Qualität haben.