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Überraschende Präsentation Moritzburg zeigt verschollenes Gemälde von Lyonel Feininger

Von Christian Eger 21.10.2016, 17:30
Unvollendetes Feininger-Werk „An der Seine, Paris“, an dem der Maler von 1912 an arbeitete. Der obere Bildstreifen ist rekonstruiert.
Unvollendetes Feininger-Werk „An der Seine, Paris“, an dem der Maler von 1912 an arbeitete. Der obere Bildstreifen ist rekonstruiert. Holger John

Halle (Saale) - Es gibt sie tatsächlich noch: Die guten alten Dinge - und die Geschichten dazu. In diesem Fall eine Geschichte, die kriminalistische Züge aufweist. Denn das Ding, um das es hier geht, ist ein Gemälde, das es eigentlich gar nicht gibt. Angefertigt von einem Künstler, von dem man vieles zu wissen meint. Aber nicht alles.

Feininger lebte in Meisterhaus im Georgengarten

Der entscheidende Hinweis erfolgt Ende der 1990er Jahre. Wolfgang Büche, Feininger-Experte und Malerei-Kurator der Moritzburg in Halle, erfährt, dass sich in Dessau ein unbekanntes Gemälde von Lyonel Feininger (1871-1956) in Privatbesitz erhalten haben soll. Dass so etwas unentdeckt geblieben sein kann, ist eher unwahrscheinlich. Andererseits, wenn so etwas Unwahrscheinliches sich tatsächlich ereignen sollte, dann wäre Dessau dafür ein geeigneter Ort. Von 1925 bis 1933 lebte der Deutsch-Amerikaner als Bauhaus-Meister in der Stadt, in einem der Meisterhäuser am Rand des Georgengartens.

Feininger-Bild als Windschutz genutzt

Gemeinsam mit dem Restaurator Albrecht Pohlmann reist Büche nach Dessau. Sie treffen eine ältere Dame, die im Dämmerlicht ihrer Wohnung ein unsigniertes Bild präsentiert, das unvollendet ist und stellenweise zerstört, das aber tatsächlich an Feiningers Mal-Duktus erinnert.  Bei den Vorbesitzern, erzählt die Frau, hätte sie das Bild in einer Gartenlaube entdeckt, wo es an eine Holzwand gepinnt war, mehr Windschutz als Raumschmuck.

Hinweis: Bild vernichtet

Angeblich soll eine Hausangestellte der Feiningers das Bild in ihren Besitz gebracht haben. Es könnte also ein Geschenk gewesen sein, was nicht unüblich war, oder ein eigenmächtiges Mitbringsel - aus dem Müll des Meisters gezogen (was heute strafbar wäre). Die Hallenser beginnen zu recherchieren. Den Schlüssel-Hinweis findet Büche mit einem Negativ im Feininger-Archiv in Cambridge, USA. Es zeigt das Gemälde „An der Seine, Paris“ von 1912 und trägt den Hinweis „Bild vernichtet“. Nicht alles, aber einiges von dem, was das Negativ zeigt, ist auf dem Dessauer Bild zu sehen.

Es bietet eine Uferszene an der Seine: das Verladen von Sand in einen Frachtkahn am Pont du Carrousel in Paris. Ein Sandberg, Lastkähne, ein Baggerkran, aber dessen Ausleger ist verschwunden, übermalt, wie sich zeigen wird. Verwischte, wie nur noch im Negativ vorhandene Figuren stehen herum. Das obere Fünftel ist in Halle eine nach der amerikanischen Bildvorlage rekonstruierte Ergänzung. Sie zeigt die Häuser hinter der Brücke, die wohl schon von Feininger entfernt worden waren, um das Bildfeld zu verdichten. Auf dem wollte der Maler die prismatische Manier testen. Denn das Bild, zeigen die Recherchen, ist nicht nur ein starkes Fundstück, sondern es kann als ein Schlüsselwerk im Schaffen des Künstlers gelten.

Feininger in der Welt der Kubisten

Im Frühjahr 1911 reiste Lyonel Feininger nach Paris. Nicht zum ersten Mal. Doch diesmal folgte der in Berlin lebende Maler einer Einladung der Société des Artistes Indépendants, der Vereinigung unabhängiger Künstler. Erstmals sah Feininger die  Werke der Kubisten, jener Maler, die die Welt in würfelförmige Körper zerlegen. Ein geometrischer Stil, der Feininger elektrisierte und auf den Weg zu seinem kristallinen, viel gerühmten Prismatismus brachte.

Skizzentour durch Paris

Wie noch immer ging er auch in Paris zeichnerisch auf Pirsch. Er skizziert, wie andere fotografieren. In Paris zeichnete er Boulevards, Häuser, Arbeiter, vor allem aber das Seine-Ufer unweit vom Salon des Artistes. Zurückgekehrt nach Deutschland, griff er auf diese Skizzen zurück. Er begann ein Gemälde, das die Szenerie einer seiner Paris-Zeichnungen aufnahm.

Das Bild, das mit dem Format 70 mal 132 Zentimeter zu den größten im Werk von Feininger gehört, wuchs sich für ihn zu einer der größten malerischen Anforderungen aus. Das Bild ist ein Transit-Werk. Was heißt: Noch ist die alte karikaturistische Diktion in den Figuren zu erkennen, aber in der Gestaltung der Brücke und Schiffskörper bereitet sich der Prismatismus vor. Feininger wurde mit dieser Herausforderung buchstäblich nicht fertig. Er nahm das Bild von Berlin aus mit nach Weimar, dann nach Dessau. Immer wieder wurde es bearbeitet, wie die Befunde von  Pohlmann zeigen. Zehn von 21 Figuren hatte Feininger entsorgt. Aber es wollte nicht gelingen.

Die Geschichte eines Scheiterns - zu sehen in der Moritzburg

Von Sonntag an ist das Bild, das bislang also erst halböffentlich in einer Dessauer Gartenlaube ausgestellt war, in der Moritzburg zu sehen. Ein Bild, von dem Moritzburg-Direktor Thomas Bauer-Friedrich sagt, dass es die „Geschichte eines Scheiterns“ erzähle, die zur Kunst immer auch dazugehöre. Aber aus diesem Scheitern eine Erzählung und eine kleine Ausstellung zu machen, die Kunstliebhaber und -experten gleichermaßen beschäftigen wird, das ist auch eine Kunst.
Denn es ist nicht unumstritten, ein vom Künstler verworfenes Werk in der Öffentlichkeit zu präsentieren. Das ist nur seriös, wenn gezeigt wird, dass man um diesen Umstand weiß, und nicht verbirgt, dass es ein Bild ist, das der Künstler selbst nicht ausgestellt hätte.
Aus dieser Not machen die Hallenser eine Tugend. Mustergültig liefern sie die kunsttechnlogischen Befunde zum Bild, das künftig als Leihgabe in der Dauerausstellung zu sehen sein soll. Sie zeigen Zeichnungen aus dem Schaffensumfeld, eine witzige Trickfilm-Animation des Bildgeschehens von Roland Böhm und vor allem das unfertige Werk selbst - ohne  Effekthascherei. Aber mit einer genau und dezent gelieferten Erzählung.
(mz)