Martin Walser Martin Walser: In der Nietzsche-Apotheke
Halle (Saale)/MZ. - Das wusste Martin Walser genau: "Kein Mensch wird mich je einladen, über Nietzsche zu sprechen." So lässt der Schriftsteller sein literarisches Spiegelbild Tassilo Herbert Meßmer 2003 in "Meßmers Reisen" klagen. Denn: "Ich bin kein Kenner, kein Fachmann und überhaupt kein Philosoph. Ich bin all das nicht, was ich gern wäre. Was aber ist einer, der all das, was er gern wäre, nicht ist?"
Wahrscheinlich ein Schriftsteller. Ein Mann wie Walser also, der im Oktober vergangenen Jahres vom Bodensee her nach Naumburg reiste, um das Nietzsche-Dokumentationszentrum mit einer Lesung zu eröffnen. "Nietzsche lebenslänglich" war der Vortrag des 83-Jährigen überschrieben. Klang wie das Höchstmaß einer Freiheitsstrafe. Nein, nein, nein!, entgegnete Walser im MZ-Gespräch. "Das ist das Gegenteil von Bestrafung. Es ist ein Bekenntnis, dass ich nie ohne ihn ausgekommen bin."
Nie ohne ihn. Nie ohne Nietzsche. Nie oben ohne: den Ideologie-Zerstäuber, Kultur- und Religionskritiker, den Psychologen und philosophischen Schriftsteller, geboren 1844 in Naumburg und 1900 gestorben in Weimar. "Als ich meinen Computer fragte, wie oft Nietzsche bei mir vorkomme, antwortete er: 732 Mal", eröffnete Walser seinen Naumburger Auftritt, dessen Text nun in der Anmutung eines Insel-Büchleins veröffentlicht wurde. Denn immer habe er Nietzsche "brauchen können", der hilfreich gewesen sei in "unzähligen Problem-Sekunden". Nietzsches Werk als Apotheke - fragen Sie Ihren Hausdichter oder Philosophen.
"Eine Seminararbeit" ist die Schrift untertitelt, die als Zettelkasten falsch beschrieben wäre. Auch wenn Walser Nietzsche-Erwähnungen aus seinem Werk zitiert: von 1957 an bis 2008, Notate aus Tagebüchern, aus Romanen wie "Ein fliehendes Pferd", "Brandung" oder "Tod eines Kritikers". Es fügt sich aus dem Zitierten dann doch ein eigener, vorwärts drängender Text zusammen, in dem man Nietzsche mit Walser liest - und umgekehrt. Mit Gewinn, auch wenn man Walser bislang nicht gekannt haben sollte. Mit einem Zuwachs also an Begriffsgenauigkeit, Erlebenswachheit und Gegenwartsgefühl.
Letzteres ist vom Geschichtsgefühl nicht zu trennen. Einem grundsätzlichen Empfinden, das dem Zeitgenossen Walser zum Beispiel die deutsche Teilung als nicht hinnehmbar erscheinen ließ. Nicht hinnehmbar auch im Blick auf und im Wissen um Nietzsche, dessen frühe und späte Lebensorte in den DDR-Bezirken Halle und Erfurt lagen. Bereits 1977: "Mein Leser, wenn es ihn gibt, hält es für unerträglich, daß Deutschland in DDR und BRD auslaufen soll." Denn: "Ich spüre ein elementares Bedürfnis, nach Sachsen und Thüringen reisen zu dürfen unter ganz anderen Umständen als denen, die jetzt herrschen. Und das kommt aus Traditionen, an denen ich als Leser teilgenommen hatte." Da hallen Namen nach, die nicht verloren gehen dürfen. Der damals 50-jährige Walser: "Nietzsche ist kein Ausländer. Leipzig ist vielleicht momentan nicht unser. Aber Leipzig ist mein. Und ich war noch nie in meinem Leben in Leipzig." Aber das sei aus seinem Bewusstsein nicht zu tilgen. "Dazu war ich zu lange Leser. Ich weigere mich, an der Liquidierung von Geschichte teilzunehmen." Sätze von 1977!
Sätze, die in den folgenden Jahren in Varianten erneuert werden. 1985 notiert Walser über den Grünen-Politiker Otto Schily, der das Ziel der Deutschen Einheit als Grundgesetz-Vorsatz abschaffen will: "Dr. Schily will realistisch sein. Ich nicht." In dem Maße, in dem Walser vor 1989 für seine Deutschlandpositionen in die Schmuddelecke verwiesen wurde, umgarnten ihn die Medien danach. Der Journalist Hellmuth Karasek 1991: "Triumphieren Sie jetzt nach dem 3. Oktober?" Walser: "Triumphieren habe ich nicht gelernt und werde es auch nicht lernen. Mir ist einfach genau an der Stelle wohl, wo mir vorher unwohl war."
Das ist noch nicht sehr griffig formuliert, bezeichnet aber eine Richtung. Es gibt eben noch andere "Organe" der Weltwahrnehmung als die jeweils angesagten ideologischen oder sittlichen Gebote; gegen die zog einst auch der Philosoph - nicht zu Felde -, sondern zu Buche. Nietzsche-Zitat im Walser-Tagebuch von 1967: "Offenbar sitzt mein Kopf nur auf meinem eigenen Hals nicht recht; denn jeder andere weiß bekanntlich besser, was ich zu tun und zu lassen habe..."
Und was von alledem zu halten ist. Lustig der Ausschnitt aus einem 2001 geführten Gespräch mit der Moderatorin Maybrit Illner (ZDF: "intelligent, scharfzüngig, rasant"), Jahrgang 1965, die sich in ihren Urteilen zuverlässig als DDR-Pflanze erweist. Illner über Nietzsche: "Na ja, also ich glaube, der ist wahnsinnig. Ich glaube, der ist wirklich wahnsinnig." Walser erstaunt: "Also Maybrit, Kind". Dann: "Es tut mir gut, Sie endlich vollkommen bedürftig zu sehen."
Bedürftig also nach Seriosität, einer Scheu vor Schluss-Sätzen, nach aus eigener Erfahrung gespeisten Urteilen. Hier kommt denn auch die Literatur zum Einsatz, auf die Walser wie nebenbei ein Loblied anstimmt. "Man begegnet sich da", schreibt Walser. "Lesen ist nicht etwas wie Musikhören, sondern wie Musizieren. Das Instrument ist man selbst. Man spielt sich, spielt sich auf nach Noten Gogols, Dostojewskis, Nietzsches, Hölderlins. Auszudrücken, was dabei in einem passiert, setzt Ausdrucksfähigkeit voraus, die man nicht entwickelt hat, weil sie nicht gefragt waren." Man kann nicht vorhersagen, was ein Leser mit Walsers lebendigem Büchlein entdeckt. Es wird aber etwas Neues sein. Und Erhellendes.