Fotografie Fotografie: Mit Leica und Eigensinn

München/dpa. - Sie arbeitete unter anderem für das US-Magazin«Life», war mit der Fotoagentur Magnum assoziiert und dafür in vielenLändern unterwegs. Zudem zählte die eigensinnige Freund zu den nochselteneren Fotografen, die in ihrem Fach über einen stabilentheoretischen Unterbau verfügten: Ihre 1974 auch ins Deutscheübersetzte Dissertation untersucht die Zusammenhänge zwischen«Photographie und Gesellschaft». Demnach prägen die sozialen Umständeeiner Epoche deren Bilder. Der Band ein Streifzug durch dietechnische Entwicklung des Mediums und seiner Wirkungen von denAnfängen mit Blick auf die Gegenwart gilt als Standardwerk.
Zum 100. Jahrestag ihres Geburtstages am 19. Dezember legt derSchirmer/Mosel-Verlag den von Gisèle Freund (19.12.1908 31.03.2000)noch mitgestalteten Band mit «Photographien & Erinnerungen» erneutauf. Zu vielen Bildern hat Freund darin Erinnerungen notiert. Bekanntsind besonders ihre Schriftsteller-Porträts, etwa von James Joyceoder T. S. Eliot. Lange Zeit wurde sie dennoch mehr als Theoretikerindenn als Fotografin wahrgenommen. Seit etwa 1970 erfährt ihre Arbeitaber internationale Anerkennung.
Als Giesela Sophia Freund wurde sie 1908 in Berlin-Schöneberg ineine großbürgerliche jüdische Familie geboren. Ihr Abitur legte sieauf einer Schule für Arbeiterkinder ab. Der Vater Kunstsammler undKaufmann schenkte ihr zum Abitur eine Leica, die seinerzeit nochnicht lange auf dem Markt war. Die Fotos halfen beim Finanzieren desStudiums, begonnen im Fach Sozial- und Kunstgeschichte in Frankfurt,unter anderen bei Karl Mannheim, Norbert Elias und Theodor W. Adorno.Ende der 20er Jahre entstanden zudem viele Magazine, die nach einemständigen Strom von Bildern verlangten. Freund war eine der erstenFotografinnen für das stilprägende «Life».
Ihre Abhandlung über die Fotografie des 19. Jahrhunderts wurde1936 als Doktoratsthese an der Sorbonne angenommen Freund war unterden Nationalsozialisten nach Frankreich emigriert und nahm den NamenGisèle an. In Paris bekam die Autodidaktin Kontakt zum literarischenMilieu, fotografierte führende Schriftsteller und Intellektuelleihrer Epoche: Andre Malraux, Walter Benjamin, Virginia Woolf, LouisAragon, George Bernard Shaw oder Jean-Paul Sartre. Später flüchtetedie Literaturliebhaberin ein zweites Mal vor den Nazis, während desZweiten Weltkriegs nach Argentinien. Südamerika wird für mehrereJahre ihr Revier, etwa für «Life», dann für Magnum. Auch in diesenMännergesellschaften muss sie sich immer wieder emanzipieren.
Nach einem halben Jahrhundert als Fotoreporterin schätzte sie,dass sie wohl an die 80 Bilder hätte, die es wert wären, ausgestelltzu werden. «Für diesen Band habe ich Fotografien ausgewählt, denenich aufgrund ihres dokumentarischen Werts einige Bedeutung beimesse»,sagte sie über «Photographien & Erinnerungen». Eine der Serien isteine Reportage von 1936 aus dem Norden Großbritanniens, wo zweiMillionen Menschen in Armut lebten. Die Bilder zeigenArbeitslosigkeit, verrottende Fabriken, Arbeiter ohne Aussicht aufbessere Zeiten. Die zeitlosen Fotos vom grauen Elend wären heutegenauso treffend und aussagekräftig wie damals.
Die Bilder wurden von der «Life»-Redaktion in den USA imZusammenhang mit der Simpson-Affäre gezeigt: König Edward hatte sichin eine geschiedene Amerikanerin verliebt und beschloss, angesichtsder überbordenden Kritik der noch viktorianisch geprägten Zeitungenabzudanken. Inmitten einer Reportage über das Leben des reichenKönigshauses erschienen Freunds Bilder ein dramatischer Kontrastund Kommentar zugleich. Daneben sind in dem Buch viele Bilder vonSchriftstellern, Straßenszenen aus Paris oder Fotos aus Lateinamerikazu sehen eben jene Aufnahmen, die Gisèle Freund zeigen wollte, unddie sie bekanntmachten.
Ebenfalls zum 100. Geburtstag erscheint die neue Biografie «GisèleFreund Ein Leben» (Arche Verlag), für die die in Paris lebendeJournalistin Bettina de Cosnac mit Zeitgenossen gesprochen und inArchiven recherchiert hat. Dabei kamen bisher unveröffentlichteBriefe und Privatfotos ans Licht. De Cosnac zeichnet das Leben derFotografin auch damit im Detail nach.
«Gisèle Freund Photographien & Erinnerungen», autobiografischeTexte, Vorwort von Christian Caujolle, Verlag Schirmer/Mosel,München, 224 S., 205 Farb- und s/w-Bilder, 49,80 Euro,ISBN 978-3-8296-0398-0
Bettina de Cosnac: Gisèle Freund Ein Leben, Arche Verlag,Hamburg/Zürich, 304 S., 28 Abbildungen, 24 Euro, ISBN-13:9783716023822