Fatih Akin im Interview Fatih Akin im Interview: "Nicht die Würde verlieren"

Berlin/Halle (Saale) - Am Donnerstag kommt „The Cut“, der neue Film von Fatih Akin, in die deutschen Kinos. Darin geht es um den Völkermord an den Armeniern zu Beginn des vorigen Jahrhunderts. Mit dem Regisseur sprach Martin Schwickert.
Geboren 1973 in Hamburg, ist Fath Akin Sohn türkischer Einwanderer. 1993 begann er mit Aushilfstätigkeiten beim Film, 2004 gründete er seine eigene Produktionsfirma. Im selben Jahr drehte er den Spielfilm „Gegen die Wand“. Das Drama über Liebe und Identitätssuche machte den Regisseur mit einem Schlag berühmt und trug ihm u. a. den Deutschen und den Europäischen Filmpreis ein.
Was hat Sie dazu veranlasst, in Ihrem neuen Film den Völkermord an den Armeniern zu thematisieren?
Akin: Seit ich als Jugendlicher zum ersten Mal davon hörte, hat mich das Thema nicht mehr losgelassen. Seitdem habe ich alles, was ich darüber dazu zu fassen bekam, gelesen. Meine Familie hat, wie die meisten Türken, diesen Völkermord verleugnet, weil sie es nicht besser wusste. Sie glaubten die offizielle türkische Darstellung, die behauptete, dass es Angriffe und Massaker von Seiten der Armenier gab und die Türken zurückschlagen mussten. Dass das ein geplanter und systematischer Völkermord war, wollte man nicht sehen.
Wie kommt es zu dieser hartnäckigen, fast ein Jahrhundert andauernden Verleugnung?
Akin: Atatürk hat 1923 mit der Staatsgründung die „Stunde Null“ ausgerufen und alles, was vorher war, aus der offiziellen Geschichtsschreibung eliminiert. Atatürk selbst hat den Völkermord an den Armeniern zwar verurteilt. Aber als er die türkische Regierung gründete, musste er mit Politikern, Gouverneuren und Staatsdienern der „Jungtürken“ arbeiten, die für den Genozid verantwortlich waren. Er hat sie vor der Anklage wegen Völkermordes, die die Briten bei den Istanbuler Prozessen erhoben haben, geschützt.
Wie haben Sie die Szenen im Todeslager rekonstruiert? Gab es dazu Fotomaterial?
Akin: Es gibt Fotos von Todeslagern, aber nicht von dem Lager, das wir im Film darstellen. Von dem Lager Ras al-Ayn ist heute vor Ort auch nichts mehr zu finden. Aber im Mahnmal-Museum in Jerewan gibt es Gemälde von Todeslagern, an denen ich mich orientiert habe. Diese Todeslager waren keine industriellen Vernichtungslager wie Auschwitz. Man hat die Leute dort einfach in der Wüste verhungern lassen. Der Völkermord an den Armeniern lässt sich nicht mit dem Holocaust vergleichen. Der Holocaust ist einzigartig in der Art des industrialisierten Massenmordes. Dementsprechend hat man in Deutschland bei dem Wort „Völkermord“ die Bilder von Auschwitz im Kopf. Das kann hier bei der Rezeption des Films schnell zu Missverständnissen führen.
Sie sind in Deutschland aufgewachsen. Inwieweit hat die deutsche Auseinandersetzung mit dem Holocaust Ihre Sicht auf den Völkermord in Armenien beeinflusst?
Akin: Ich begreife heute den Holocaust auch als Teil meiner eigenen Biografie. Früher als Jugendlicher habe ich gesagt: „Das war ich nicht, das waren die Deutschen.“ Aber irgendwann kam ich an den Punkt, dass es bei diesem Thema auch darum geht zu begreifen, was Menschen anderen Menschen anzutun in der Lage sind. Deutschland ist eines der wenigen Länder, das in dieser Beziehung seine eigene Geschichte gründlich reflektiert hat und darin liegt eine große Chance. Aber das alles bedeutet nicht, dass ich als Deutschtürke per se dazu prädestiniert bin einen Film wie „The Cut“ zu machen. Ich habe viele deutschtürkische Schauspieler angesprochen, ob sie bei dem Film mitmachen. Viele haben es abgelehnt, Teil eines Films zu sein, der sich mit dem Völkermord an den Armeniern beschäftigt.
Wer einen Film über Völkermord dreht, kommt auch um die Frage der Gewaltdarstellung nicht herum…
Akin: Es war klar, dass wir Gewalt zeigen müssen, wenn wir das Thema ernst nehmen. Mir war es wichtig, dabei nicht die Würde vor den Opfern zu verlieren. Ich will nicht, dass die Zuschauer aufgrund krasser Gewaltdarstellungen aussteigen. Wenn ich in den Todeslagern ein verhungerndes Baby im Hintergrund schreien höre, ist das für mich sehr viel ergreifender als ein Enthauptungsvideo auf YouTube. (mz)