Erik Neutsch Erik Neutsch: Der Grantler von Halle

Halle (Saale)/MZ. - Wie soll man einem Mann zum Geburtstag gratulieren, der einem nicht mehr Rede und Antwort stehen will? Weil er den Gesprächspartner früherer Jahre auf der "anderen Seite" sieht, nicht bei den Kommunisten? Das ist absurd und lächerlich, es ist eines Erzählers von Erik Neutschs Rang auch nicht würdig.
Und dennoch, eben weil er ein Mann ist, der die Auseinandersetzung stets gesucht (allerdings nicht immer ausgehalten) hat, der auch Schläge bekam und sich wieder aufgerappelt hat, weil der Grantler von Halle einer ist, den man nicht vergessen kann und darf, muss natürlich doch über ihn gesprochen werden - es wird ihn im Übrigen weder überraschen, noch wird es ihm gleichgültig sein. Heute wird er 80 Jahre alt.
Was ist, neben seiner harschen Konsequenz, die in Nachbarschaft des gekränkten Stolzes beheimatet ist, das Besondere an Neutsch, der vielen der Jüngeren nur noch dem Namen nach bekannt ist? In der DDR war er ein Star und Auflagenkönig, ein Mann auch, dessen polterndes Wort etwas galt und über den zugleich zahllose Anekdoten kursierten. Oftmals ging es dabei um Alkohol, dem Neutsch früher gern zugesprochen hat, er war ein Trumm von einem Mann und Inbegriff praller Lebenslust. Der große Adolf Endler schließlich, Guru der Aussteiger-Poeten vom Prenzlauer Berg und ein messerscharfer Spötter, hat den Großmeister des Sozialistischen Realismus in seinen irrlichternden Prosastücken als Gunnar Altsch verewigt - was man durchaus auch als Geste kritischen Respekts verstehen kann.
Tatsächlich wäre es an der Zeit, Neutschs Werk und dessen Wirkung genau zu untersuchen, gar nicht polemisch, aber eben auch nicht durch Weihrauch vernebelt. Das mit dem früheren Lektor Klaus Walther und auf Vermittlung des DDR-"Bücherministers" und Zensors Klaus Höpcke entstandene Gesprächsbuch "Erik Neutsch. Spur des Lebens" mag dafür als Quelle dienen - als Schlussstein des Diskurses taugt es gewiss nicht.
Sehr wahrscheinlich sieht Neutsch selber diesen, im Herbst 2010 gemeinsam vom "Neuen Deutschland" und dem Verlag Das Neue Berlin herausgegebenen Band als letztes Wort an, beim Lesen spürt man indes fortgesetzt Lust auf Nachfragen und Widerworte. Das liegt nicht zuletzt in der eigenwilligen Methode begründet, nach der das Buch entstand: Neutsch erzählte, Walther hörte zu und formatierte das Konvolut der Gesprächsnotizen schließlich zu Fragen und Antworten. Gleichwohl ist das Material interessant. Neben sehr berührenden, teils schutzlos offenen Worten Neutschs zu seinen privaten Katastrophen wie dem Tod seiner Frau, der Abkehr seiner Töchter angesichts der neuerlichen Verbindung ihres Vaters und schließlich der eigenen, schweren Krankheit, gibt der Autor ausführliche Auskunft zu seiner Kindheit und zur Entstehung seiner Bücher.
Und er beharrt wortreich auf Positionen seines Sozialismus, indem er die Funktionäre, seine Genossen von einst, nachträglich ihrer faktischen, bis in die Nachfolgeparteien PDS und Linke fortwirkenden Deutungsmacht enteignen will.
Ein durchaus tragisch zu nennender Irrtum, der gewiss auch aus Selbstschutz und gekränkter Eitelkeit wie ein Bollwerk aufgerüstet wird. Unzweifelhaft hat Neutsch, früher einmal Redakteur der halleschen Parteizeitung "Freiheit", zu den Profiteuren des DDR-Systems gehört, seine Bücher wurden in immer neuen Auflagen gedruckt, selbst wenn sie (wie sein mehrbändiges, noch unvollendetes Epos "Der Friede im Osten") wohl eher weniger nachgefragt waren.
Zugleich war Neutsch auch ein geradezu romantischer, manchmal sentimentaler und naiv wirkender Querkopf, der sich mit den Unzulänglichkeiten seines Staates aus Prinzip nicht abfinden mochte, den Fehler im System indes nicht für möglich halten wollte.
Zuletzt hat er sich 1989 gemeinsam mit anderen halleschen Autoren für Offenheit und gegen die Bürokraten erklärt. Dies zu erwähnen gehört zur Gerechtigkeit, die der Arbeitersohn aus Schönebeck verdient. Und wenn er heute sagt, wer den Sozialismus will, solle auch für den Sozialismus schreiben dürfen, so wird es ihn wahrscheinlich überraschen, das ihm keiner widersprechen will. Gewiss, das soll er dürfen. Und andere Meinungen gelten lassen.
Das tut er nicht gern. Gekränkt hockt er hinter den Palisaden seiner verletzten Selbstwahrnehmung - und ist doch ein Autor, der 1964 mit dem Roman "Spur der Steine" einen bis heute kaum verwitterten Quader in die literarische Landschaft geworfen hat. Ein Buch, das die Widersprüche beim Aufbau der sozialistischen Gesellschaft anpacken wollte - aber eben richtige Literatur, nicht Propaganda, wie mindere Talente sie ablieferten.
Wer noch im Zweifel wäre: Natürlich soll man Neutsch lesen, seine Bücher, zumal "Spur der Steine", aber auch "Auf der Suche nach Gatt" oder "Zwei leere Stühle", gehören zur deutschen Literatur wie Kurt Maetzigs, Frank Beyers und Konrad Wolfs Werke zur Filmgeschichte. In diesem Sinne: herzlichen Glückwunsch!