Dichterin Dichterin: Die Statthalterei preist Winzigerode
Erfurt/MZ. - Aus Thüringen zu stammen, ist keine große Sache. Dortselbst als ein Dichter mit Anspruch durchzuhalten, offenbar schon. Die Autoren-Abgänge jedenfalls sind Legion. Aber da war doch Goethe! Und Schiller! Und Wieland! Selbstverständlich. Von diesen Herren war denn auch pflichtschuldig die Rede, als Dienstagnachmittag im stadttheaterhaft plüschigen Festsaal der Staatskanzlei in Erfurt der Dichterin Sarah Kirsch der Thüringer Verdienstorden überreicht wurde.
Allein die drei Männer, die Ministerpräsident Dieter Althaus in seiner Laudatio auf Sarah Kirsch erwähnte, sind von Westen her nach Thüringen rübergemacht. Landeskinder waren es nicht. Reiner Kunze wurde 200 Jahre später von Greiz aus nach Passau vertrieben. Jürgen Fuchs und Lutz Rathenow zischten ab nach Ost-West-Berlin.
Sarah Kirsch, die bedeutendste Dichterin der Gegenwart, lebt nicht zufällig fernab in Schleswig-Holstein. Eine Künstlerin in Distanz zu allem Öffentlichen, eine Autorin, der viele Preise zu gönnen sind, die aber eben nicht alle Preise annimmt. Das Bundesverdienstkreuz hat die heute 70-Jährige abgelehnt. Die Thüringer Verdienstmedaille nimmt sie in Erfurt entgegen.
Wiepersdorf für immer
Dabei ist Sarah Kirsch, die 1935 in Limlingerode geboren wurde, landschaftlich betrachtet eine Beute-Thüringerin. Limlingerode, das Ostharznest, befindet sich im alten thüringisch-sächsischen Grenzstreifen. Dort steht das Geburtshaus der Autorin. Seit 2002 ist der Fachwerkbau Sitz der "Dichterstätte Sarah Kirsch", betrieben von Karin Kisker, Heidelore ("Heidelerche") Kneffel, Marlis Ludwig und Eva Müller. Kein Museum, sondern "ne Art Kulturhaus und basta".
Rund 120 Personen saßen im Festsaal der "Statthalterei" des kurmainzischen Erzbischofs in Erfurt, die heute als Staatskanzlei zu dienen hat - sozusagen die Statthalterei der Christlich Demokratischen Union in Thüringen. Dieter Althaus zitiert eine Zeitung, die den Namen Sarah Kirsch ein "Gütesiegel für sympathische Lyrik" nannte. Das ist ein weit verbreiteter Unsinn, der Kirschs Lyrik aufs privatistisch Gemütliche herunterzurechnen sucht. Tatsächlich ist die Kirsch lakonisch und unversöhnlich, klarsichtig bis zur Galligkeit. Althaus redet an gegen "die Betonköpfe von links und rechts". Die Betonköpfe der Mitte vergisst er; mit denen hat man es heute vor allem zu tun.
Kein Bett für Dichter
Sei's drum. Die Kirsch ist großartig. "Danke vielmals", sagt die kleine Frau in schwarzer Bluse und beigefarbener, blumig gemusterter Hose, die eine buntgestrickte Stola samt Hirschbeutel trägt. Sie reckt Blumenstrauß und Orden in die Höhe. Hält keine Dankrede, sondern liest: "Ist das Beste, was ich kann". Und wie. Sie beginnt mit "Wiepersdorf", dieser großen poetischen Landnahme von 1976. Ein Poem von der Durchschlagkraft eines Schlagers, Weltliteratur aus dem Ländchen DDR. Kleinere Gedichte folgen, ein Limlingerode-Brief, Passagen aus ihrer Novität "Kommt der Schnee im Sturm geflogen".
Letzteres Büchlein ist in Wahrheit eine Poetik der Autorin. So wie der Nachmittag in Erfurt ein Fest für die vier "Thüringer Mädels" gewesen ist, die das Kirsch-Knusperhäuschen in "Winzigerode" durchgesetzt haben. Allein auf welche Dauer? Eine Zweiraumwohnung sollte jedem Muße suchenden Schreiber offenstehen. Die Stadt Hohenstein aber, die Limlingerode als Ortsteil führt, hat die Wohnung kurzerhand an ein ortsansässiges Pärchen vermietet. Dichterstätte ohne Dichter also? Das in jenem Jahr, in dem die Kirsch einige Tage dortselbst versinnen wollte. Trotz alledem reist sie am 24. und 25. Juni zu den Limlingeröder Diskursen an. Sarah Kirsch hat Thüringen die Ehre erwiesen, die Medaille anzunehmen. Es läge nun an Thüringen, sich Verdienste um das Konzept der Dichterstätte zu erwerben.