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Das personifizierte Problem

Von THOMAS KILCHENSTEIN 09.08.2011, 20:29

FORTALEZA/MZ. - Im Garten von Dona Maria in der Rua Luis Guimaraes legt Cizo Sousa Silva noch ein mächtiges Stück Fleisch auf den Grill. Vorn steht der Fernseher, es ist noch nicht mal Halbzeit, 0:0 steht es im Viertelfinale der Südamerikameisterschaft Copa America zwischen Brasilien und Paraguay, und Cizo hat genug. Er hat sich die schlappen Vorrundenspiele angesehen und gehofft, dass es nun, da es ernst wird, besser wird. Aber jetzt reicht es dem Mann, der von Kindesbeinen an glühender Fan der Selecão ist: "Früher hatten wir Stürmer wie Adriano, Ronaldo, Luis Fabiano oder Romario, gestandene Männer. Jetzt haben wir da vorn zwei Jungs."

Von denen der eine offenbar mehr mit seiner Irokesen-Frisur, der Kappe, Brillis im Ohr, Ketten und seinen hoch übers Knie gezogenen Stutzen zu tun hat. Gemeint ist Neymar da Silva Santos Junior vom Copa-Libertadores-Sieger FC Santos, der neue Jungstar, Werbe-Ikone, Mädchenschwarm und Heilsbringer in Brasilien. Halb Europa hat seine Angel ausgeworfen nach dem 19-Jährigen aus dem Pelé-Klub. Wie es heißt, soll Real Madrid das Rennen gewonnen haben, bereit, die 45 Millionen Euro an festgeschriebener Ablösesumme über den Atlantik zu überweisen.

In seiner Art zu spielen erinnert Neymar an den jungen Cristiano Ronaldo: ballverliebt, egoistisch, dribbeln um des Dribbelns Willen, spektakulär, oft genug nicht eben zielführend. Dazu nervt seine Fallsucht. So sehr, dass selbst Pelé ihn als "Hampelmann" bezeichnet hat.

In Europa, so viel steht fest, wird Neymar sein Spiel umstellen müssen. Das wurde vor ein paar Wochen überdeutlich, als eines der spektakulärsten Spiele der brasilianischen Liga, der Campeonato Brasileiro, gespielt wurde: Santos gegen Flamengo - Flamengo mit Altmeister Ronaldinho gewann 5:4 nach 0:3-Rückstand. Neymar erzielte zwar zwei spektakuläre Tore und bereitete ein weiteres vor, Ronaldinho, der gleich dreimal traf, war aber der entscheidende Mann, da er in den kritischen Augenblicken der Partie Tempo und Rhythmus seines Teams bestimmte und die Mitspieler in Szene setzte. Neymar indes versuchte allein mit sinnlosen Einzelaktionen die drohende Niederlage abzuwenden.

Blutleere Auftritte

Die Copa America war für Neymar noch eine Nummer zu groß. Damit war er das personifizierte Problem, das Sinnbild der gesamten jungen Generation: Alexander Pato vom AC Mailand, Lucas vom brasilianischen Spitzenverein FC São Paulo oder auch Paulo Henrique Chagas da Lima, genannt Ganso. Die Selecão hat sich in Argentinien blamiert: raus im Viertelfinale im Elfmeterschießen, wobei die Brasilianer das Kunststück fertig brachten, vier Elfmeter absurd tölpelhaft nicht im Tor unterzubringen. Böse Zungen behaupteten gar: Mit "Gans" (portugiesisch: Ganso) und "Ente" (Pato) gewinnst du nichts. Eine "historische Unfähigkeit" schrieben die Zeitungen.

Das frühe Scheitern zeigt vor allem eines: Brasilien ist derzeit nicht mehr die große Fußballmacht. Die blutleeren, uninspirierten Auftritte bei der Copa, das frühe Ausscheiden bei der WM in Südafrika, dazu hat Brasilien seit langem nicht mehr gegen einen Großen der Branche gewonnen. Wahrscheinlich war es noch nie so einfach, eine brasilianische Auswahl zu schlagen wie derzeit. Die Selecão steckt im Umbruch.

Nationaltrainer Mano Menezes, nach den Rückschlägen der jüngeren Zeit schon nicht mehr unumstritten, hat alles dem großen Ziel untergeordnet, 2014 im eigenen Land die so sehr herbeigesehnte Hexa, den sechsten WM-Titel, zu gewinnen. Er sagt: "Wir stecken in einem Prozess. Ich habe sieben Spieler in die Mannschaft eingebaut, sie müssen noch reifen." Der 49-Jährige, einst bei Gremio Porto Alegre und Corinthians tätig, weiß aber auch: "International haben sie nicht den Spielraum wie in Brasilien, damit müssen sie umgehen lernen."

Tatsächlich ist das Spielniveau in Brasilien deutlich geringer als in Europa, das Tempo ist langsamer, der Ball wird viel länger am Fuß geführt, statt des schnellen Passes wird gern noch ein - oft sinnfreies - Dribbling eingestreut. Zudem wird die Liga zum Sammelbecken zurückgekehrter Altstars.

Altstars blockieren Plätze

Die Campeonato ist dank potenter Sponsoren attraktiv. Brasilien ist eine aufstrebende Wirtschaftsmacht, ein Schwellenland, Geld ist vorhanden. Ronaldinho etwa soll sich seine Tricks mit 6,5 Millionen Euro pro Jahr vergüten lassen. Zurück sind auch Rivaldo, 39 (São Paulo), Juninho 36 (Vasco da Gama), Deco (Fluminense) oder Elano (FC Santos). Auch sie werden nicht für einen Appel und ein Ei in der Heimat kicken.

Zuletzt hatten auch Roberto Carlos oder Ronaldo ihr Gnadenbrot zu Hause verzehrt. Menezes fürchtet, dass die Alten "die Positionen für die jungen Spieler blockieren". Auch die Medien sind skeptisch. Die Altstars wirkten zuweilen "wie abgehalfterte Elefanten, die sich zum Sterben dahin zurückziehen, wo das Gras weicher ist und die Zähne nicht mehr so stark belastet werden".

Der fünffache Weltmeister - nur noch ein zahnloser Tiger?

Die ARD überträgt das Spiel Deutschland gegen Brasilien ab 20.15 Uhr live.

Das Spiel im Live-Ticker unter: www.mz-web.de/ticker