1. MZ.de
  2. >
  3. Kultur
  4. >
  5. "Bürger lösen Sie sich auf!": "Bürger lösen Sie sich auf!": Die nichtfriedliche Revolution 1989 in Halle

"Bürger lösen Sie sich auf!" "Bürger lösen Sie sich auf!": Die nichtfriedliche Revolution 1989 in Halle

Von Christian Eger 24.11.2019, 15:00
Die Nacht, die Lichter: Am Tag nach der Oktober-Demonstration eingerichtete Mahnwache in der halleschen Georgenkirche. Ein Foto vom 9. Oktober 1989 ist nicht bekannt. Die Filmdarstellungen sind geschützt.
Die Nacht, die Lichter: Am Tag nach der Oktober-Demonstration eingerichtete Mahnwache in der halleschen Georgenkirche. Ein Foto vom 9. Oktober 1989 ist nicht bekannt. Die Filmdarstellungen sind geschützt. imago seeliger

Halle (Saale) - Um 18.33 Uhr geht es los. Schulter an Schulter, Schritt für Schritt. So schieben sich die Polizisten von der Mitte des halleschen Marktplatzes aus in zwei Ketten in Richtung Marktkirche und Boulevard. Um 18.38 Uhr fallen sie in den Laufschritt. Rufe, Schreie. Es ertönt der Befehl: „Nach vorn!“

Um 18.40 Uhr läuten die Glocken der Marktkirche, in der an diesem 9. Oktober 1989 die Demonstranten Zuflucht finden. 19.20 Uhr:

Polizeihunde bellen. Zwei Minuten später setzt der Film aus, der das hier geschilderte Geschehen zeigt. Ein Überwachungsfilm, den die Stasi von der ersten größeren, ihrerseits keinesfalls friedlichen, sondern mit Schlagstöcken und Verhaftungen aufgelösten Demonstration in Halle aufgezeichnet hatte.

Zwei Stunden und 20 Minuten fasst das Video, das von Fenstern im Ratshof, im Stadthaus und vom Haus der 1.000 Dinge aus aufgenommen worden war. Am Dienstagabend wurde der Film vor rund 300 Menschen in der halleschen Marktkirche gezeigt, erläutert von Zeitzeugen.

Ein Abend im Gedenken an den 9. Oktober 1989 und an den Tag 30 Jahre darauf, an dem in Halle ein mörderischer Anschlag auf die Synagoge stattfand. An jenem Tag, an dem der Film eigentlich öffentlich gezeigt werden sollte.

Auf einer im Chor aufgestellten Leinwand, vor der zur Linken vier kommentierende Zeitzeugen saßen, wurden die vom Zeitgeschichtenverein präsentierten Filmbilder abgespielt.

Die zeigen das Geschehen von 16.44 Uhr bis 20.56 Uhr, mit einer Aufzeichnungslücke von 19.22 Uhr bis 20.36 Uhr. Zu 17 Uhr war am Montag, 9. Oktober 1989, zu einer Demonstration mit anschließendem Friedensgebet gerufen worden. Das Motto: „Gewaltloses Widerstehen“, „Schweigen für Leipzig“, „Schweigen für Reformen“, „Schweigen für Hierbleiben“.

Unter Regenschirmen

Wie es augenfällig gewesen war: Es geht lässig und beiläufig harmlos los. Punks stehen am Fuß des Händeldenkmals, Demonstranten begegnen einander wie Spaziergänger. Noch scheint das Tageslicht. Die Aufnahmen zeigen erstaunlich viel Farbe. Die wandelt sich mit der Dämmerung in wogende Brauntöne.

Das Wetter ist nasskalt, regnerisch. Menschen mit Schirmen eilen durchs Bild. Das tun sie, weil der Film mit 1,5 facher Geschwindigkeit gezeigt wird. Der fokussiert sehr auf die Menschenmenge vor der Marktkirche, die Prügeleinsätze am oberen Markt und in den Seitenstraßen bleiben unsichtbar. Die vielen mitgeführten Kerzen bilden sich als gelbe Kreuze ab.

Während der Film über die Leinwand ruckelt, sprechen die Bilderklärer: Anja Falgowski und Stefan Hellem, die verhaftet worden waren; Wolfgang Schuster, der mit in die Marktkirche gelangte; Günther Buchenau, der als Superintendent mit seinen Kollegen die Kirche geöffnet hatte - einer von etwa 30 Pfarrern, die auf dem Film durch ihre weißen Beffchen auf dem schwarzen Talar zu erkennen sind. Marit Krätzer, Leiterin der Stasi-Unterlagenbehörde in Halle, liest aus dem Bericht der Stasi. Befehle wie: „Bürger, lösen Sie sich auf!“

Drinnen und draußen

Die Frage nach 30 Jahren: Hätten sich die rund 350 - in die Marktkirche einerseits ab 18 Uhr zur offenen Aussprache versammelten, andererseits abgedrängten - Personen nicht besser dazu entschließen sollen, nach draußen zu gehen, sich der Macht entgegenzustellen? Unmöglich, sagt Buchenau, der für eine Deeskalations-Strategie stand, man hätte keine Chance gehabt. Der Punkt bleibt strittig.

Um 19 Uhr wurden die Menschen aus der Kirche von der Polizei in Richtung Hallmarkt gelenkt, „demütigend“, wie Schuster sagt. In Leipzig brachen gleichzeitig 70.000 Menschen auf. Dafür hätte in Halle die „Schwungmasse“ gefehlt, sagt Hellmer. Trotzdem gilt für ihn: „Was wir damals als Volk geschafft haben, das sollten wir uns bewahren.“ Applaus im Haus.

Dem Pfarrer Martin Herzfeld gehen die Filmbilder nach. „Es kränkt mich bis heute, wie ängstlich ich selber an diesem Tag war“, schrieb er in einer gestern verbreiteten Wortmeldung. „Wir Pfarrer wollten die Menschen schützen - nicht ermutigen. Dadurch haben wir aber zur Verlängerung der Angst beigetragen, statt zur Befreiung von der Angst.“

Weiter schreibt er: „Und ich frage mich bis heute, ob wir nicht Menschen ausgebremst haben, die mehr Mut gehabt hätten. Aber das gehört wohl zum holprigen Gang der Geschichte.“ Wie auch das: „Wer dabei war, möchte gern Heldengeschichten erzählen können. Ich kann keine Heldengeschichten erzählen.“

Eine von vielen Perspektiven. Erzählt von einer von mehr als 400 Personen, die dabei waren. Man sollte den Film auf eine halbe Stunde kürzen und als DVD verteilen. Eine Halle-Rolle 89. (mz)