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Roman Eine verhängnisvolle Affäre: „Kairos“ von Jenny Erpenbeck

Nach ihrem hochgelobten Buch von 2015 war der neue Roman von Jenny Erpenbeck mit Spannung erwartet worden. „Kairos“ handelt von einem ungleichen Liebespaar in der untergehenden DDR.

Von Sibylle Peine, dpa Aktualisiert: 21.10.2021, 14:51
Das Cover des Buches „Kairos“ der deutschen Autorin Jenny Erpenbeck (undatierte Aufnahme).
Das Cover des Buches „Kairos“ der deutschen Autorin Jenny Erpenbeck (undatierte Aufnahme). Penguin Verlag/dpa

Berlin (dpa) – - Es gibt die schöne deutsche Redensart „Die Gelegenheit beim Schopf packen“. Sie geht zurück auf Kairos, den griechischen Gott des richtigen Augenblicks.

Kairos trägt über der Stirn eine lange Locke oder Zopf, sein Hinterkopf dagegen ist kahl geschoren. Packt man den flüchtig vorbeiziehenden Gott nicht rechtzeitig am Schopf, bleibt nur noch der vergebliche Blick auf seinen nackten Hinterkopf. Der günstige Augenblick ist vorbei und wird nicht so schnell wiederkommen.

„Kairos“ heißt der neue Roman von Jenny Erpenbeck, in dem sie fragt, ob die Begegnung zweier Menschen eine glückliche Fügung war oder doch eher ein fataler Augenblick für ihr weiteres Leben.

Mit Spannung war das Buch erwartet worden. Wurde ihr letzter Roman „Gehen, ging, gegangen“ von 2015 über die Flüchtlingssituation doch nicht nur viel gelobt, sondern unter anderem auch für den Deutschen Buchpreis nominiert (vielen galt er als Favorit, er gewann jedoch nicht).

Eine Zufallsbekanntschaft

Nun entwirft die Autorin, die 1967 in Ost-Berlin geboren wurde, eine andere Szenerie. An einem verregneten Julitag des Jahres 1986 treffen die neunzehnjährige Katharina und der fast 30 Jahre ältere Hans in einem überfüllten Bus in Ost-Berlin aufeinander.

Aus der Zufallsbekanntschaft zweier sehr unterschiedlicher Menschen entwickelt sich eine obsessive Leidenschaft, die trotz aller Widrigkeiten mehrere Jahre anhält. Jahrzehnte später erhält Katharina nach Hans' Tod zwei Kartons mit Erinnerungsstücken. Bei der Sichtung vergilbter Fotos, Briefe, Postkarten und Kalender werden die alten Zeiten wieder lebendig.

Von Beginn an herrscht in dieser Liebesbeziehung ein Ungleichgewicht: Er, ein verheirateter Mann und Vater, ist ein erfolgreicher Schriftsteller und Radioautor, ein geachtetes Mitglied der überschaubaren Intellektuellenszene dieses kleinen Landes. Er hat sein Leben schon gelebt. Mit der Naziideologie groß geworden, musste er mit der Familie fliehen. Später dann ein Neuanfang in der DDR, ein Staat, mit dem er im Großen und Ganzen im Einklang steht.

Sie dagegen ist fast noch ein Mädchen, hat gerade erst eine Lehre als Setzerin begonnen, wechselt später für ein Praktikum als Bühnenbildnerin ans Theater in Frankfurt an der Oder. Sie gehört zu jenen Kindern, die „alle Stationen durchlaufen haben, die der sozialistische Staat für sie bereithielt, um sie zu Bürgern der Zukunft zu machen. Und dennoch ist der Abstand, den sie zu diesem Staat hat, enorm.“ Es ist vor allem Desinteresse und politische Müdigkeit.

Liebesbeziehung steht im Vordergrund

Politik spielt in diesem Roman allenfalls am Rande eine Rolle. Die gesellschaftliche Wirklichkeit ist eher ein Hintergrundrauschen für eine Liebesbeziehung, die alle Stadien durchlebt, vom rauschhaften Anfang einer amour fou über Ernüchterung, Betrug, Trennung, Wiederversöhnung etc. Das alles gleich mehrfach. Doch immer bleibt da ein Ungleichgewicht bestehen.

Nach einer kurzen Affäre Katharinas mit einem gleichaltrigen Mann schlachtet Hans diesen eher harmlosen Betrug für endlose, auf Band aufgenommene Tiraden aus: „Wie ein billiges Aas hast du dich verhalten. Und bewahrst die Erinnerung an eine Affäre. Mir dagegen bleiben nur Enttäuschung und Ekel.“ Und sie hält ihm demütig sogar noch die andere Wange hin: „Unendlich dankbar ist sie Hans dafür, dass er sie nach dem, was passiert ist, nicht gleich und für immer weggejagt hat. Dass er ihr helfen will, eine andre zu werden.“

Es ist eine ermüdende, auf fast 400 Seiten ausgewalzte Wiederholungsschleife von weinerlichen Vorwürfen, Erpressung und Strafen. Vielleicht ist es nur ein Spiel, es besteht aber der Verdacht, dass alles todernst gemeint ist.

Sprachliche Ausrutscher, die sich die Autorin erlaubt, machen die Sache nicht besser. Da heißt es etwa: „Da tropfen Katharinas Tränen, nachdem sie einen Weg über die Wölbung ihre Wangen zurückgelegt haben, vom Kinn auf das gestärkte Tischtuch, und auch die Tränen von Hans tropfen, nachdem sie den Graben der Falte um seinen Mund passiert haben, auf das gestärkte Tischtuch...“

Dass der Roman völlig unvermittelt am Ende noch einen politischen Dreh bekommt und damit bestimmte Erwartungshaltungen an eine typische DDR-Geschichte erfüllt, macht die Enttäuschung komplett.