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Blues Blues: Das stille Sterben des Stefan D.

Von Steffen könau 02.12.2011, 14:15

Halle (Saale)/MZ. - Eines Tages haben sie doch noch begonnen, nach ihm zu suchen. Die Kollegen von einer Band, mit der er mal gespielt hat. Ein paar Fans von früher, die nicht einsehen wollen, dass der Blues-König seinen Thron einfach so verlassen hat. Ein Reporter, der einen Film drehen will. Und einer, der gern ein Interview hätte. Sogar eine Facebook-Gruppe entstand, die alle Informationen sammelt.

Nur dass es keine Informationen gibt über Stefan Diestelmann, den Blues-König der DDR, der seinen letzten Hit vor einem Vierteljahrhundert hatte und sich nach seiner Flucht in den Westen in einen kleinen Ort in Bayern zurückzog.

Dort pflegte der Mann mit dem Dreitage-Bart den Nimbus des Total-Aussteigers. Kein Blues mehr, kein Applaus und keinerlei Kontakte. Alte Freunde im Osten wie der Mundharmonikaspieler Bernd Kleinow oder der Gitarrist Axel Stammberger hörten nichts. Aus dem Blickfeld von Freunden im Westen wie dem ehemaligen Lindenberg-Pianist Gottfried Böttger oder dem Blues-Musiker Bernie Ringe verschwand er über Nacht.

"Er hat sich jedem Kontakt der Familie entzogen", erinnert sich sein Onkel Jürgen Diestelmann. Wenn Touristen aus dem Osten ihn erkennen und fragen, warum er denn nicht mehr spiele, lässt er sie wissen, dass die Musik ihm zu wichtig sei, "dass ich sie als Broterwerb betreiben will".

Der Westen hat ihn enttäuscht. Hier ist alles härter, die Konkurrenz größer und ebenso der Anpassungsdruck. Lief es in der DDR so, wie der Blues-König wollte oder es lief gar nicht, so ist das hier beides dasselbe: Läuft es so, wie Diestelmann will, läuft es gar nicht.

Der begnadete Improvisationskünstler hadert mit sich. Cafés statt Konzerthallen. Begleitmusiker statt Frontmann. Bittsteller statt der, der Bedingungen stellt. Nicht mit Stefan Diestelmann. Aus dem wichtigsten Blues-Mann der DDR wird ein Freizeitkapitän, der sein Boot über den Ammersee steuert und behauptet, die Musik gar nicht zu vermissen. An guten Tagen erzählt er dabei Stories aus seiner großen Zeit, die Hände flattern, die Stimme imitiert verschiedene Sprecher. Diestelmann lacht selbst begeistert über seine "Schoten".

So klingt einer, der nur noch selten Gelegenheit hat, ein Publikum zu unterhalten wie damals mit seiner Folk-Blues-Band. Die Leute tanzten, die Klubs kochten und Stefan Diestelmann fühlte sich endlich angekommen in der DDR, die ihm, dem gebürtigen Münchner, nie Heimat hatte sein wollen.

Wie konnte sie auch. Diestelmann empfindet es als "schreckliches Schicksal", dass sein Vater, der als Defa-Schauspieler arbeitet, seine Familie nach dem Mauerbau von Darmstadt in die DDR holt. "Weil meine Eltern nur an sich gedacht haben", formuliert er scharf, "hieß es zack, ab in den Osten."

Stefan Diestelmann sitzt nun in einer Schule in Babelsberg, von den Mitschülern gehänselt wegen seines Dialektes und wegen der Lederhose, die er nach Mutters Willen tragen muss. Die Lehrer sehen in ihm den Klassenfeind. Diestelmann leidet. Er wird von Mitschülern verprügelt. "Dann waren die Klamotten kaputt - und zu Hause setzte es sofort die nächste Tracht."

Der frühere Klassenkasper und Stimmenimitator verstummt. Aus strategischen Erwägungen, wie er viele Jahre danach behaupten wird: "Wenn die Lehrer den Westen verteufelten, weil die Arbeiter dort sich keine Butter leisten können, wusste ich, dass das gelogen ist."

Nach außen sieht alles schön aus. Der kleine Stefan darf sogar vor die Defa-Kamera: Mit Otto Mellies spielt er im "Der Arzt von Bothenow". Und erinnert sich später doch vor allem daran, zu der Zeit von zu Hause abgehauen und von der Polizei gesucht worden zu sein. Stefan Diestelmann sieht sich als Opfer der Entscheidung seiner Eltern für die DDR. Vater und Mutter hätten ihren Wechsel in den Osten recht schnell bereut gehabt. "Und wenn ein Topf anbrannte, war das natürlich ein Scheiß-Ulbricht-Topf, und wenn du zufällig daneben standest, gab’s eine vor den Kopf."

Stefan zieht sich in die Musik zurück, die Gitarre wird seine Welt. Weil der Vater ihm Beat verbietet, flieht er zum Blues. Er hat eine Fünf in Musik, aber er spielt BB King und Muddy Waters nach. Blues scheint ihm "so frei, so in die Welt gesungen". Er ist wie dafür geschaffen. "Es war der Rhythmus im Blues, der mich angemacht hat", sagt er später, "das Primitive, in dem alles steckt." Die Musik hilft ihm aus seiner "Alptraum-Kindheit". Mit der Gitarre ist er wer, wenn er singt, empfängt er Bewunderung. Es ist dies das Hochgefühl, dem Stefan Diestelmann nun stets nachjagen wird: Anerkannt werden, im Mittelpunkt stehen, der sein, zu dem alle aufschauen.

Der Preis dafür ist ihm irgendwann egal. Als er berühmt geworden ist und Hunderttausende von Platten verkauft, wird er beginnen, die Wirklichkeit nach seinen eigenen Wünschen zu verbiegen. Als sei die Wahrheit nicht genug, ihm gerecht zu werden, deutet er sie märchenhaft um: Aus einer Bewährungsstrafe wegen seines Versuches, illegal zurück in den Westen zu kommen, macht er eine mehrjährige Haftstrafe. Aus dem Nichts erfindet er eine "dreiwöchige DDR-Tournee" mit Blues-Altmeister John Mayall, die so gut klingt, dass ein Rocklexikon sie weitererzählt.

Dass die Kollegen längst munkeln, stört ihn nicht. Niemand versteht Stefan Diestelmann, der gleichzeitig Staatskünstler und Staatsfeind zu sein vermag, der geliebt werden will für seine Unangepasstheit, aber gern auch Einladungen der Staatsmacht annimmt.

Hauptsache Beachtung. Der Blues allein reicht ihm nicht mehr, sich in andere Welten zu versetzen. Stefan Diestelmann will es größer, selbst wenn er alle seine Wegbegleiter vergrault. Alexander Blume, sein Pianist und bester Freund, sieht ihn damals "immer bereit, zu übertreiben, wenn es besser klingt". So wird der Autodidakt zum Superstar in seiner eigenen Realität. Die erste Platte schlägt alle Rekorde. Die Hallen sind voll. Das Ministerium gewährt dem Mann ohne Ausbildung "wegen dessen Popularität" den begehrten Berufsausweis. Und die zweite LP wird zum Triumph. Der König des Blues ist nun nicht nur gut, sondern so kritisch, wie er sein will.

Nur Diestelmann kann Diestelmann noch stoppen. Und er tut es. Die Konzerte mit Weltstars wie Phil Everly, die Sessions daheim mit Harmonica Phil Wiggins, die Filmmusiken, die Kinoauftritte, in all dem spürt er nur, was fehlt. Diestelmann will mit Gottfried Böttger im Westen spielen. In den USA mit BB King auftreten. Stattdessen bekommt er Auftrittsverbote, weil er "Jugendliche anzieht, die die Ordnung und Sicherheit gefährden", wie die Stasi schreibt.

Ein Diplomat ist er nicht. "Ich bin Komponist, kein Kommunist", zitiert eine Akte eine seiner Ansagen. Das Tischtuch ist zerschnitten. 1984 nutzt Diestelmann einen Auftritt im Westen, um der DDR den Rücken zu kehren.

Seine Karriere ist damit zu Ende. Binnen weniger Monate zieht er sich von den Musikerfreunden in der neuen, alten Heimat zurück. Der König des Blues taucht ab. Er dreht jetzt Werbefilme für Hotels und behauptet, im neuen Metier sehr glücklich zu sein.

Erst als die Mauer fällt, überlegt er es sich noch einmal anders. Gerd Leiser, Manager von Engerling, sieht ihn Mitte der 90er in einem Dorfsaal spielen. "Den Mixer hat er selbst bedient, er traute niemandem." Auch Denny Hertel aus Wittenberg tritt mit ihm auf. "Er war immer noch ein geiler Musiker", sagt er. Und immer noch habe er seine Musiker hart angefasst.

Doch Diestelmanns Hoffnung trügt, dass die Fans strömen werden wie früher. Der Blues ist zurück in der Nische, der König landet auf dem Boden der Tatsachen. Stefan Diestelmann verkauft seine Musik nun nur noch in einem Laden im Ort. Er ist immer noch ein großer Geschichtenerzähler, ein Mann, der abendliche Runden ganz allein unterhalten kann. Er spricht viel von früher. Er macht Witze. Er macht keine Musik mehr.

Eine Nachbarin, die nicht weiß, wer er ist, hört ihn manchmal Saxophon spielen. "Aber das ist lange her", sagt sie. Sein Vermieter ist der letzte Mensch, der weiß, dass da der Blues-König des Ostens zu hören ist. Stefan Diestelmann stirbt am 27. März 2007. Fast fünf Jahre lang wird das niemand bemerken.