Biografie Biografie: Eine ostpreußische Odyssee
Halle/MZ. - Die Landkarte zeigt Braunschweig ganz links und Krasnojarsk ganz rechts. Rund 5 000 Kilometer liegen zwischen den beiden Orten, 5 000 Kilometer, und im Fall der Liesabeth Otto ein unglaubliches Leben quer durch sechs Jahrzehnte und drei Gesellschaftsordnungen.
Es ist der Krieg, der die 1945 gerade mal Siebenjährige in ein Schicksal wirft, das unvorstellbar scheint. Auf der Flucht vor der Roten Armee verliert Liesabeth Otto ihre Mutter, schließlich auch ihre Geschwister. Während der Tross der deutschen Flüchtlinge nach Westen strebt, bleibt das kleine, dünne Mädchen in der abgerissenen Jacke im heimischen Ostpreußen zurück, ahnungslos, ratlos, hungrig. Mehrere Jahre, so hat es Liesabeth Otto ihrer Biografin Ingeborg Jacobs erzählt, irrt sie durch Litauen, bettelt auf Bauernhöfen um ein Stück Brot, schläft im Unterholz, wird geschlagen, vergewaltigt und fortgejagt. Auf oberster Ebene debattieren Sowjets und Deutsche längst, wie sich die verbliebenen Deutschen in der Sowjetunion möglichst flott aus dem Land bringen lassen. Doch nach ganz unten in die Gosse, in die Wälder und die Scheunen, wo Liesabeth Otto inzwischen beginnt, ihre Muttersprache zu vergessen, dringt keine Nachricht von Heimholaktionen.
Irgendwann hält sich das Mädchen selbst eher für eine Litauerin, obwohl sie noch weiß, dass sie deutsch ist. Sagen aber will sie das niemandem, denn Deutsche werden nach dem Krieg gehasst, selbst wenn sie kleine Mädchen sind. Vor Strafe schützt auch diese Vorsicht nicht. Nach acht Jahren auf der Straße wird die inzwischen 16-Jährige bei einem Diebstahl erwischt. In der Sowjetunion der 50er Jahre heißt das Kinderstraflager, Kinderstraflager aber heißt dauerhafter Verlust aller Bürgerrechte, heißt Start einer kriminellen Karriere.
Liesabeth Otto landet in der Kinder-Arbeitskolonie Kineschma. Zum ersten Mal seit sie zurückdenken kann bekommt sie regelmäßiges Essen, es gibt Bücher zu lesen und Filme zu sehen. 20 Tage nur hält sie es danach in Freiheit aus, ehe sie wieder stiehlt, um ins Gefängnis zurückzukommen. Das heißt diesmal Frauenstraflager Pukso-Osero, es liegt am Polarkreis und fordert von seinen Insassen die Mobilisierung aller Überlebenskräfte: "Durch Arbeit zur Besserung" ist hier das Motto, unter dem die meist wegen geringfügiger Straftaten zu langjähriger Haft verurteilten Frauen gequält und drangsaliert werden dürfen.
Liesabeth Otto ist stark genug, auch das zu überleben. Es gelingt ihr nach der Begnadigung sogar, eine Art bürgerliches Leben aufzubauen, arbeiten zu gehen, Kinder zu bekommen. Der Krieg aber, der sie aus ihrer Lebensbahn geworfen hat, tobt weiter, selbst als ihr endlich die Ausreise zu ihrer Familie nach Deutschland gelingt. Mit 39 Jahren fühlt sich die Deutsche, die nur noch Litauisch und Russisch spricht, in Niedersachsen so fremd wie auf dem Mond. Sie sehnt sich nach Ostpreußen, wohin sie schließlich auch wieder zurückfindet. Glücklich wird sie nie mehr werden. Aber wenigstens ist sie nun zu Hause.
Ingeborg Jacobs: Wolfskind. Propyläen Verlag, mit Abb., 320 Seiten, 19,95 Euro