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Archivtext vom 24. Mai 1998 Archivtext vom 24. Mai 1998: Übrig blieben Wut und Trauer

Von Rainer Wenning 04.11.2002, 16:43

Leipzig/MZ. - Das Werk "Toccata, Adagio, Fuge" in C-Dur von Johann Sebastian Bach verlangt eine sensible Interpretation. Als Kurt Grahl das Werk am 24. Mai 1968 in der Leipziger Universitätskirche zu spielen begann, mußte er alle Register ziehen. "Bei dem Lärm der Preßlufthammer wäre sonst nichts zu hören gewesen", erinnert sich der katholische Kirchenmusikdirektor. Das 700 Jahre alte gotische Gotteshaus wurde zur Sprengung vorbereitet. Was den Zweiten Weltkrieg fast unbeschadet überstanden hatte und Heimat für christliche Studenten, die katholische Propsteigemeinde mit rund 3 000 Gläubigen sowie Orgelschüler war, fiel heute vor 30 Jahren der sozialistischen Stadtbauplanung zum Opfer.

Es waren Tage und Stunden der Aufregung in Leipzig. Am 23. Mai, dem Fest "Christi Himmelfahrt", hatte die Stadtverordnetenversammlung - bei einer Gegenstimme des evangelischen Pfarrers Hans-Georg Rausch - der Sprengung zugestimmt. Kurz danach kam Grahl von einer Berlin-Reise zurück. Mit seinem Orgel-Lehrer Georg Trexler ging der Student zur Universitätskirche, in der Generationen von Organisten ausgebildet worden waren, um einige persönliche Dinge einzupacken. "Wir wurden von der Polizei empfangen und mußten unsere Ausweise abgeben." Nachdem Grahl auf Bitten seines Lehrers mit dem Bach-Werk begann, "wurde es unruhig hinter mir". Auch Proteste Trexlers nutzten nichts: Die Staatsmacht unterbrach auf dem dritten Notenblatt; Grahl kreuzte die Stelle in roter Schrift an.

Trexler sagte mit Tränen in den Augen: "Was soll denn das?" Ob man nicht verstehen könne, daß er, der langjährige Orgellehrer, sein Instrument noch einmal hören wolle? Abrißleiter Josef Paulus antwortete laut Kurt Grahl: "Wenn diese Kirche hier verschwindet, bauen wir eine Stätte des Humanismus und der Menschlichkeit!"

Nach Angaben von Katrin Löffler, Autorin des Buches "Die Zerstörung" (siehe Hintergrund), begann sich das Ende der Universitätskirche aber schon wesentlich früher abzuzeichnen. Professor Hans Nadler, Leiter des Dresdner Instituts für Denkmalpflege, erinnert sich, daß SED- und Stadtvertreter bereits Ende der 40er Jahre über die Beseitigung der Gebäude am früheren Karl-Marx-Platz nachdachten - neben der Kirche ging auch das Hauptgebäude der Universität, das Augusteum, unter: "Wahrscheinlich war es eine von Moskau gesteuerte Pflichtlinie, daß die zentralen historischen Plätze zu gesellschaftlichen Zentren umgestaltet werden sollten."

Diese neue "Ensemble-Bildung" wurde laut Löffler zu einem der entscheidenden Argumente für den Abriß der Universitätskirche. Hinzu kam in den 60er Jahren ein auch in Westdeutschland üblicher Trend, sich von alten Bauwerken zu trennen. Außerdem zeichnete sich eine Verschärfung der Gangart gegen die DDR-Kirche ab.

Bis zur Sprengung jedoch war es noch ein weiter Weg. Jahrelang beharkten sich Universität - sie befürwortete zunächst neue Räumlichkeiten außerhalb des Stadtzentrums, bestand dann aber auf einer großzügigen neuen Anlage am Karl-Marx-Platz - und die Stadtverwaltung, die anfangs die Altbausubstanz erhalten wollte. Kommissionen, Planungen, Eingaben und Schlampereien behinderten eine klare Entscheidung. Klar war den Planern immer, daß der permanente Anziehungspunkt Universitätskirche nicht in ein neues Stadtzentrum paßte. Erwogen wurde anfangs sogar eine kostenintensive "Verrollung", um das Gotteshaus hinter den neuen Bauten verschwinden zu lassen.

Dem unproduktiven Treiben machte erst Walter Ulbricht ein Ende: "Das Ding muß weg", verkündete der DDR-Staatschef bereits 1960. Klar ist, daß er damit nicht die Sprengung in Auftrag gab, sondern nur entsprechende Planungen für Leipzig bestätigte. Doch erst am 7. Mai 1968 segnete das Politbüro die Neugestaltung der Universität ab. Bei der "Abstimmung" im Uni-Senat am 16. Mai enthielt sich nur Theologie-Dekan Ernst-Heinz Amberg der Stimme.

Welche Unwissenheit bei den Stadtoberen kurz vor der Sprengung herrschte, zeigte sich auch am 23. Mai. Erstmals war "Christi Himmelfahrt" kein Feier-, sondern ein Arbeitstag. Die Propsteigemeinde wollte dennoch am Abend ihren Gottesdienst zu dem Fest abhalten, stieß jedoch auf Widerstand der Staatsmacht. Die Absperrmaßnahmen für die Sprengung hatten längst begonnen. Die Messe begann mit Verspätung, wie Kaplan Alexander Ziegert sich erinnert: "Es war eine ganz merkwürdige, knisternde Atmosphäre, eine geladene Stimmung."

Professor Trexler protestierte auf seine Weise und spielte das Lied "Ein Haus voll Glorie schauet". Die dritte Strophe lautet: "Wohl tobet um die Mauern der Strom in wilder Wut. Das Haus wird s überdauern, auf festem Grund es ruht." Die Gläubigen, so Zeitzeugen, haben wohl mehr geweint als gesungen.

Kurt Grahl erinnert sich noch an das Vorgehen von Polizei und Stasi in den Tagen bis zum Aus für die Kirche. "Wenn man aus der Straßenbahn ausstieg, wurde man schon fotografiert." Auch hatten die Studenten offiziell "Karl-Marx-Platz-Verbot". Dennoch kamen viele von ihnen, blieben gar bis drei Uhr - aus Angst, die Kirche könne nachts gesprengt werden. Der Protest war mutig. Wie aus Unterlagen hervorgeht, hätte die Polizei auch Waffen eingesetzt, und die Studenten waren mit der Exmatrikulation bedroht worden.

Während völlig überstürzt ein Teil der Kunstschätze geborgen wurde, während einfache Menschen, evangelische wie katholische Kirchenleute und Studenten bis zur letzten Minute Eingaben schrieben, telefonierten, vorsprachen, bereitete der Sprengmeister sein Vernichtungswerk vor. Die Stadt orderte Transportraum für die Trümmer, denn die sollten bis zum Internationalen Bachwettbewerb wenige Tage nach der Sprengung entfernt sein.

Kurt Grahl blieb - wie den anderen Demonstranten auch - zum Schluß nur Wut, Trauer und stummer Protest. Am 30. Mai um zehn Uhr kippte erst der Dachreiter der Kirche, dann ging der Rest schnell im Staub unter. Die "Zerstörung mitten im Frieden" (Löffler) war bittere Wirklichkeit geworden.

30 Jahre danach will der Paulinerverein den Wiederaufbau des Gotteshauses. Drei Modelle, vom originalgetreuen Herstellung für 70 Millionen Mark bis zu einem Neubau, liegen vor. Der heutige Leipziger Propst Günter Hanisch hält angesichts des "Zustands unserer Städte" nichts von solchen Plänen. Seine Propsteigemeinde hat seit 1982 eine neue Kirche. "Die reicht völlig aus."

Fest steht nur, daß zumindest für die Universität etwas Neues kommen muß. Denn die jetzigen Gebäude sind nach 30 Jahren marode und für einen modernen Lehrbetrieb ungeeignet. Die Universität, die laut Rektor Volker Bigl den Abrißbeschluß des Senats von 1968 bereits nachträglich mißbilligt hat, mußte übrigens schon am Donnerstag gedenken: Der sächsische Wissenschaftsminister Hans-Joachim Meyer als Ehrengast hätte heute keine Zeit gehabt.

Einen Beschluß wie den des Uni-Senats gibt es von Seiten der Stadt Leipzig noch nicht, wie eine Sprecherin erklärte. Und auch die CDU hat sich, wie in Kirchenkreisen bitter vermerkt wird, von ihrer damaligen Zustimmung noch nicht distanziert. Daß am Ende eines Tages, der an die Zerstörung erinnert, das Haydn-Oratorium "Die Schöpfung" steht, klingt nach Angaben von Universitäts-Musikdirektor Wolfgang Unger zwar "etwas hintersinnig", aber man wolle sich im Hinblick auf die Zukunft Mut machen.