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Wolke aus Schweigen Tschernobyl: Wie die DDR die größte Atomkatastrophe der Geschichte vertuschte

Heute vor 36 Jahren, am 26. April 1986, hat sich im Atomkraftwerk Tschernobyl das schlimmste Atomunglück der Geschichte ereignet. Das Kraftwerk ist seither stillgelegt, ein riesiger Schutzmantel aus Stahl und Beton soll seither den Austritt von Radioaktivität verhindern. Ein Rückblick:

Von Steffen Könau Aktualisiert: 26.04.2022, 13:01
Verstrahlte Fahrzeuge, die während der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986 eingesetzt wurden, stehen bis heute in  der Sperrzone.
Verstrahlte Fahrzeuge, die während der Nuklearkatastrophe von Tschernobyl 1986 eingesetzt wurden, stehen bis heute in der Sperrzone. (Foto: Ukrinform/dpa)

Halle (Saale) - Fünf karge Sätze sind es, mit denen die DDR-Nachrichtenagentur ADN die DDR-Bürger am dritten Tag nach der Katastrophe informiert. „Im Kernkraftwerk Tschernobyl in der Ukraine hat sich eine Havarie ereignet“, heißt es knapp. Einer der Kernreaktoren sei beschädigt worden. „Es werden Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen der Havarie ergriffen, den Betroffenen wird Hilfe erwiesen.“ Zudem sei eine „Regierungskommission“ eingesetzt worden.

Atomunfall Tschernobyl - Beruhigungspillen aus Moskau

Mehr muss niemand wissen, das hatte die DDR-Führung am Tag zuvor entschieden. An jenem 28. April 1986 waren beunruhigende Meldungen aus dem nördlich von Stockholm gelegenen schwedischen Atomkraftwerk Forsmark gekommen. Die Messgeräte dort zeigten plötzlich fünf- bis sechsmal höhere Strahlungswerte als üblich an. Und ein Grund für die erhöhte Radioaktivität konnte nicht ausgemacht werden.

Erst als wenig später auch Finnland deutlich erhöhte Werte meldet, kommt ein Verdacht auf. Es herrscht Ostwind, die radioaktiven Luftmassen kommen also offenbar aus der Sowjetunion. Die aber, seit einem Jahr geführt vom Reformer Michail Gorbatschow, schweigt. Die sowjetische Atomenergiebehörde erklärt auf eine Anfrage aus Schweden hin sogar, ihr lägen „keine Informationen über einen Zwischenfall“ vor.

Am Abend von Tag zwei erst, in den westlichen Medien wird längst über ein Atomunglück in der Sowjetunion spekuliert, gibt die Moskauer Agentur TASS einen Unfall zu. In einem Atomkraftwerk in Tschernobyl, 130 Kilometer entfernt von der Hauptstadt Kiew, habe sich eine Havarie ereignet. Es seien zwei Menschen ums Leben gekommen und „dringende Maßnahmen zur Beseitigung der Folgen eingeleitet“ worden.

Katastrophe Tschernobyl - Ausmaß bleibt für DDR-Bürger ungewiss

Die wahre Dimension der Katastrophe bleibt für DDR-Bürger unklar. Während die Sowjetunion das „Entweichen einer gewissen Menge radioaktiver Stoffe“ einräumt, teilt das Staatliche Amt für Atomsicherheit mit, dass ständig Messungen zur Überwachung der Radioaktivität erfolgten. Aktuell würden aber „keine Werte der Radioaktivität gemessen, die eine Gesundheitsgefährdung hervorrufen können“.

Ein Riesenrad steht im April 2021  in einem stillgelegten Vergnügungspark in der Geisterstadt Prypiat in der Nordukraine. Die verlassene Stadt wurde 1970 im Zusammenhang mit dem Kernkraftwerk Tschernobyl gegründet und nach dem Reaktorunglück geräumt.
Ein Riesenrad steht im April 2021  in einem stillgelegten Vergnügungspark in der Geisterstadt Prypiat in der Nordukraine. Die verlassene Stadt wurde 1970 im Zusammenhang mit dem Kernkraftwerk Tschernobyl gegründet und nach dem Reaktorunglück geräumt.
(Foto: dpa/Ukrinform)

Ähnlich reagieren anfangs auch die offiziellen Stellen der Bundesrepublik. Bundesinnenminister Friedrich Zimmermann etwa betont, dass eine Gefährdung in Deutschland „absolut auszuschließen“ sei. Die Radioaktivität sei nur in einem Umkreis von 50 Kilometern um den Reaktor herum hoch, die Bundesrepublik aber liege 2.000 Kilometer entfernt.

Die radioaktive Wolke hat Deutschland zu dieser Zeit bereits erreicht. Das zeigen Messwerte, die für zunehmende Verunsicherung sorgen. Weder in der Bundesrepublik noch in der DDR gibt es einen Maßnahmekatalog, der greift, wenn ein Szenario wie das von der Internationalen Atomenergieorganisation als „katastrophaler Unfall“ eingestuftes Systemversagen von Tschernobyl tatsächlich eintritt.

Nuklearkatastrophe Tschernobyl - Panikwelle in Westdeutschland

In Westdeutschland, dessen Bundesländer nicht einmal einheitliche Grenzwerte besitzen, türmt sich eine Panikwelle auf. Milch und Blattgemüse sollen nicht mehr gegessen werden, heißt es in einigen Bundesländern. In anderen wird anfangs nur gemahnt, es sei wichtig, Gemüse gründlich abzuwaschen. Wenige Tage später wird tonnenweise Gemüse beschlagnahmt und vernichtet. Kinder sollen nun nicht mehr im Sandkasten spielen, auch Erwachsene bei Regen besser in geschlossenen Räumen bleiben.

Klassenfahrten in die DDR werden abgesagt, in Niedersachsen ergeht an die Bauern die Aufforderung, Blattgemüse sofort unterzupflügen. Kleingärtner sollten zudem besser die oberste Bodenschicht ihrer Beete abtragen, um Strahlenbelastungen durch radioaktiven Niederschlag zu beseitigen.

Die sogenannten Liquidatoren waren die Helden von Tschernobyl.
Die sogenannten Liquidatoren waren die Helden von Tschernobyl.
Foto: DPA

Das Schlagzeilengewitter, das über Radio und Fernsehen in Echtzeit in die DDR ausstrahlt, setzt die SED-Führung unter Druck. Die Menschen trauen den offiziellen Versicherungen nicht, wie ein Witz verrät: Man lebe nun wohl schon in der strahlenden Zukunft, die die SED immer versprochen habe. Nur zu sehen sei die immer noch nicht.

DDR: Katastrophe Tschernobyl als „westliches Hetzspektakel“

Am 1. Mai, dem Feiertag der Arbeiterklasse, beordert die Partei mit Günter Flach, dem Direktor des Zentralinstituts für Kernforschung Rossendorf, Karl Lanius, Chef des Akademieinstituts für Hochenergiephysik, und Wolfgang Krüger vom Staatlichen Amt für Atomsicherheit gleich drei hochrangige Fachleute in die Nachrichtensendung „Aktuelle Kamera“. Übereinstimmend versichert das Trio, dass es „in keiner Phase der Entwicklungen nach der Havarie eine Gefährdung für Menschen und Umwelt in der DDR gegeben“ habe.

Die Radioaktivität habe „nie in irgendeiner Form die Grenzwerte erreicht“, betont Karl Lanius, und „der momentane Stand ist, dass es bereits im Abklingen ist.“ Eine reale Gefährdung existiere damit nicht. „Ich würde diese Meldungen, die da hochgespielt werden, dass die Menschen gefährdet sind und sich in Räumen aufhalten sollen, unter dem Motto der Panikmache sehen.“

06.02.2022: Die Abdeckung des beschädigten Reaktors im Kernkraftwerk Tschernobyl. Russland hat nach ukrainischen Angaben das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl erobert.
06.02.2022: Die Abdeckung des beschädigten Reaktors im Kernkraftwerk Tschernobyl. Russland hat nach ukrainischen Angaben das ehemalige Atomkraftwerk Tschernobyl erobert.
(Foto: dpa/Zuma Press)

Ein „westliches Hetzspektakel“, wie die Zeitungen in der DDR schreiben. Diese „verleumderische Propagandakampagne“, die der Führung der UdSSR Geheimniskrämerei beim Umgang mit dem Reaktorunglück vorwerfe, diene nur der „politischen Brunnenvergiftung“. Alles ziele darauf ab, Abrüstungsvorschläge der Sowjetunion „zu entstellen und ihre Glaubwürdigkeit herabzusetzen“, um den eigenen „Hochrüstungs- und Konfrontationskurs“ ungestört fortsetzen zu können.

DDR spielte Folgen der Tschernobyl-Tragödie herunter

Die Tragödie von Tschernobyl, ausgelöst durch eine Kette von menschlichem und technischem Versagen, hat sich in einen Kampf auf dem Schlachtfeld des Kalten Krieges verwandelt. Mit regelmäßigen Berichten über die „Stabilisierung der Radioaktivitätswerte auf einem niedrigen Niveau“, Nachrichten über Störfälle in Reaktoren in Großbritannien und Zitaten westlicher Experten, die vor „Hysterie“ wegen der gestiegenen Strahlenbelastung warnen, versuchen die Medien in der DDR, die Folgen der Katastrophe herunterzuspielen.

Die Milch in der DDR bleibt trinkbar, Gemüse gesund, alle Spielplätze sind offen. Die DDR-Führung beruft sich dabei auf Experten der Weltgesundheitsorganisation, die verkündet hatten, dass „lediglich im Unglücksgebiet die Notwendigkeit besonderer Maßnahmen und Verhaltensregeln“ bestehe.

Am 7. Mai, neun Tage nach dem GAU in Block 4 des Kraftwerkes, startet in der ukrainischen Hauptstadt Kiew die 39. Internationale Friedensfahrt. Die Bundesrepublik, Italien, die USA und ein halbes Dutzend weiterer Staaten haben die Teilnahme ihrer Fahrer abgesagt. Im 6,7 Kilometer langen Prolog durch die Stadt siegt mit Uwe Ampler aus Leipzig ein DDR-Fahrer. Auch die folgenden drei Etappen werden im Katastrophengebiet ausgefahren. Als ob die Atomruine in der Nähe nicht immer noch qualmen würde. (mz)