Sexualität Sexualität: So liebt es der Osten
Halle/MZ. - Die DDR ist das langweiligste Land der Welt, hat der Dichter Volker Braun einen seiner literarischen Helden sagen lassen. Darüber konnten die Funktionäre überhaupt nicht lachen. Und es stimmte ja auch gar nicht, gefeiert wurde nicht zu knapp im Arbeiter- und Bauernstaat, Bier und Schärferes noch flossen in Strömen.
Und geliebt haben wir!, erinnern sich Zeitzeugen gern in einer Mischung aus Wehmut und Trotz. Bildbände wie "Die nackte Republik" haben viele Käufer gefunden. Das berühmte Foto, auf dem ein entblättertes DDR-Urlauberpaar lässig an der Haube seines quietschblauen Trabants lehnt, ist allgegenwärtig.
Der Westen indessen, er staunte, als er in den Osten kam. Buckelige Straßen hatten sie dort und komische Autos, aber herrliche, naturbelassene Strände, an denen allerdings hemmungslose Nudisten zu regieren schienen. Die Verwunderung bis hin zum Entsetzen war bei den Brüdern und Schwestern aus den alten Bundesländern so groß wie der Widerstand der friedfertigen FKK-Freunde, die sich ihren Spaß bis heute nicht nehmen lassen.
Was aber ist dran am Mythos vom freizügigen Ostler, der am Strand wie im Bett dem restriktiven Staat ein Schnippchen schlug? Jutta Resch-Treuwerth, zu DDR-Zeiten berühmt für ihre Ratgeber-Kolumne "Unter vier Augen", die mehr als 20 Jahre lang in der Tageszeitung "Junge Welt" abgedruckt wurde, kann mit dem Bild von den fröhlichen Nackedeis, das sich so symbolhaft eingeprägt hat, allerdings gar nichts anfangen.
Liebe, Partnerschaft und Sexualität, sagt sie, seien Inseln der Zufriedenheit in der DDR gewesen. In dieser geschützten Intimsphäre, ein gutes Verhältnis zu Freunden und Kollegen inklusive, habe man Bedürfnisse ausgelebt, die Freizeit verbracht "und über Gott und die Welt gequatscht". Abgesehen von Sport und "gehobener Kultur" habe die DDR leider wenige Angebote gemacht, Subkulturen seien so gut wie nicht vorhanden gewesen. "Das engte zweifellos viele Lebensformen und Interessen ein oder ließ sie erst gar nicht zu."
Aber, sagt die 1942 in Berlin geborene Ehe- und Familienberaterin, "dass nun die Nackten am Ostseestrand diese Lücke füllten und ein Ausdruck von Freiheit und Freizügigkeit sein sollen, finde ich lächerlich. Es gibt nichts Unerotischeres als einen FKK-Strand mit Dicken, Dünnen, Kleinen und Großen".
Freikörperkultur hat in den Augen von Jutta Resch-Treuwerth schlicht und einfach mit Gesundheit und Natürlichkeit zu tun. Und umso befremdlicher findet sie es deshalb, dass den Westlern dieser Anblick die Schamröte ins Gesicht trieb. Dabei seien die doch durch Bilder in Zeitungen und Magazinen an ganz andere Sachen gewöhnt gewesen.
Ist die untergegangene DDR also wenigstens in Sachen Liebe und Erotik das glücklichere der beiden Deutschländer gewesen? Zumindest war sie deutlich anders. Jutta Resch-Treuwerth führt das gesellschaftliche Klima ins Feld, das die Liebenden und ihre Verhältnisse prägt. Und in dieser Hinsicht habe es schon wesentliche Unterschiede zwischen Ost und West gegeben.
Beim Geld zum Beispiel: "Finanzielle Erwägungen spielten bei der Partnerwahl im Osten kaum eine Rolle." Sex sei keine Ware gewesen, es habe keine Eheverträge gegeben, erinnert die Beraterin, die heute eine private Partnervermittlungsagentur in Hohen Neuendorf bei Berlin betreibt. Und die Berufstätigkeit der Frau habe, auch nach der Hochzeit und dem Kinderkriegen, Beziehungen auf Augenhöhe geschaffen. Hier wird Jutta Resch-Treuwerth grundsätzlich: Keiner war abhängig vom anderen, ein Höchstmaß an Gleichberechtigung sei so entstanden.
Die hatte freilich ihren Preis, Frauen mussten neben dem Job und gesellschaftlichen Verpflichtungen ja auch noch Haushalt und Kindererziehung managen. Zumindest trugen sie an diesen Aufgaben schwerer als die Mehrzahl der Männer. Aber es sei immerhin nicht zu einem Geschlechterkampf gekommen, hält die Fachfrau aus dem Osten dagegen, der "Frauen aufs hohe Ross setzte und Männer feministisch verunsicherte". Nein, für ihre Verunsicherung sorgten die Männer immer noch selber - was bis heute nachzuwirken scheint. Immerhin gibt es einen deutlichen Männerüberhang von bis zu 25 Prozent in den neuen Ländern, viele der jungen, leistungsstarken Frauen sind in den Westen abgewandert.
Dort war seinerzeit mit der achtundsechziger Unruhe auch die sexuelle Revolution ins Land gekommen, junge Menschen wollten ihr Leben, namentlich auch ihr Liebesleben selbst bestimmen. Das war in der DDR allerdings nicht anders, auch wenn die Paare frühzeitig Ehen schlossen - die finanzielle Fallhöhe im Falle des Scheiterns war deutlich niedriger als heute. Und die Zukunftsängste waren es auch, erinnert Jutta Resch-Treuwerth. Im Osten gab es zudem eine im Gegensatz zum Westen sehr liberale Abtreibungsregelung, deren Folgen der Staat durch materielle Anreize zur Familiengründung abzufangen suchte. An der Frage des Rechts auf Schwangerschaftsunterbrechung wäre die deutsche Einheit übrigens beinahe noch gescheitert, erinnert sich der DDR-Unterhändler Günther Krause. Schließlich kam ein Kompromiss zustande, der die DDR-Praxis um eine Pflichtberatung ergänzte.
Einheit herrscht inzwischen auch bei den Ehescheidungen, wobei hier der Westen leicht über dem Bundesdurchschnitt liegt, der Osten darunter. Ostberlin wird seit 1995 herausgerechnet, die Hauptstadt wird komplett dem Westen zugeschlagen, zumindest statistisch.
Grundsätzlich wird viel geschieden, die Beziehung auf Lebenszeit scheint auf dem Altar der hektischen Moderne geopfert worden zu sein. Für Jutta Resch-Treuwerth ist klar: "In einer Gesellschaft, die ständig Flexibilität und Mobilität von ihren Bürgern verlangt, kann auch die Partnerschaft nichts Ruhendes mehr sein." Wir werden uns daran gewöhnen müssen, meint sie. Und am Ende wären drei Mal neu und glücklich vielleicht besser als einmal recht und schlecht. Das mag stimmen, nur sind es allemal die Kinder, die das Scheitern mitbezahlen müssen. Emotional auf jeden Fall, so schick das Wort von den Patchworkfamilien klingt, die nach der Trennung der Eltern mit jeweils neuen Partnern entstehen. Und welche Folgen das für die eigene Lebensperspektive der Kinder hat, ist wahrscheinlich noch gar nicht abzusehen.
Was aber bleibt vom Osten, der so frei gewesen sein soll in Liebe und Lust? Eine Erinnerung, die immer unschärfer wird. Und die tapferen Nackten bleiben auch, sie werden weiter praktizieren, was den DDR-Oberen eher unheimlich war: einen individuellen Lebensstil. Wenigstens im Urlaub. Und im Kollektiv.