Schicksal von Besatzungskindern Schicksal von Besatzungskindern: Vater, der unbekannte Soldat

Magdeburg/Weimar - Jewgeni war ein schöner Mann, er hatte den Krieg gewonnen und brachte Brot und Wurst mit. Damals 1945 - im ersten Sommer nach der letzten Schlacht, als ihn Erika in Halle kennenlernte. Der russische Besatzungssoldat und die deutsche Kellnerin in seinem Stammlokal: Neun Monate später kam Karin zur Welt, ihr gemeinsames Kind. Nach der Geburt, so berichtete die Mutter viele Jahre später, habe Jewgeni sie mit Blumen überschüttet. Dann war er plötzlich verschwunden. Abkommandiert in die Heimat, nach Sibirien. Was sie damals nicht ahnen konnte: für immer. Einfach unerreichbar, ohne jedes Lebenszeichen.
Kein Einzelfall. Beinahe täglich klingelt bei Silke Satjukow, einer Historikern an der Universität Magdeburg, das Telefon und Menschen mit solchen oder ähnlichen Schicksalen melden sich bei ihr. Die 50-jährige Wissenschaftlerin ist eine von wenigen Fachleuten in Deutschland, die sich mit Fragen von Besatzungskindern auseinandersetzen. Unterstützung erhält Satjukow von der Fritz-Thyssen-Stiftung, die diese Arbeit über Jahre mitfinanziert.
Wettlauf gegen die Zeit
Rufen Betroffene bei der Professorin an, dann ist ihnen ein Anliegen gemeinsam: Alle suchen einen Vater, von dem sie nichts oder fast nichts wissen. Und nahezu alle sind ihr zufolge extrem verunsichert, hoffen bei diesem sehr intimen Problem auf äußerste Diskretion und wollen für die Öffentlichkeit jedenfalls unerkannt bleiben.
Dabei ist es inzwischen immer auch ein Wettlauf gegen die Zeit. Denn manche Mutter, sagt Satjukow, habe selbst die vage Erinnerung an den Vater ihres Kindes als ihr Geheimnis mit ins Grab genommen. Die Hinterbliebenen bleibe dann eigentlich nur völlige Ratlosigkeit und der Wunsch, mit dem Dilemma irgendwie gut umgehen zu können. Selten gelingt das, so Satjukow.
Die meisten dieser Geschichten, sagt die Historikerin, begannen unter schlimmen Umständen, oft sogar mit einer brutalen Vergewaltigung der Frau. Nicht nur, aber vor allem in der sowjetischen Besatzungszone. Wie sich inzwischen herausgestellt habe, können aber auch Franzosen und Amerikanern zahlreiche Übergriffe auf die deutsche Zivilbevölkerung zugeschrieben werden. Übergreifend galt laut Satjukow der Grundsatz: Vergehen alliierter Soldaten an Deutschen werden in aller Regel nicht strafrechtlich verfolgt. Lediglich britische Soldaten übten offenbar eine große Zurückhaltung im Umgang mit deutschen Frauen, sahen sie aus Sicht der Autorin nicht als „Kriegsbeute“ an.
400.000 Besatzungskinder nach dem Zweiten Weltkrieg geboren
Insgesamt falle die Bilanz jedoch für die Frauen und die Besatzungskinder, so die Forscherin, auch 70 Jahre nach Kriegsende erschreckend aus. „Für die Besatzungskinder gab es leider nur höchst selten ein Happy End, allenfalls klappte manchmal die Verdrängung.“ So sei es kein Zufall, dass ausgerechnet diese Menschen, nunmehr schon im Rentenalter, ungewöhnlich häufig unter Depressionen litten. Psychotherapeuten sprechen in diesen Fällen mitunter „von einer seelischen Wunde, die nicht heilen will“. In ganz Deutschland wurden nach dem Zweiten Weltkrieg, sagt Satjukow, mindestens 400 000 Besatzungskinder geboren. Mit dieser Schätzung liegt sie deutlich über früheren Annahmen. Allein bei den sowjetischen Soldaten, dem im Osten stationierten größten Kontingent der alliierten Streitkräfte der Anti-Hitler-Koalition, könne man ihr zufolge inzwischen ohne Übertreibung von rund 300 000 Kindern ausgehen. „Das sind Zahlen und Schicksale, die Deutschland mitgeprägt haben.“ Immerhin legten solche Angaben die Vermutung nahe, dass zeitweise jedes zehnte Neugeborene einen Besatzungssoldaten als leiblichen Vater hatte.
Auf der nächsten Seite: Laut Satjukow und Gries stieg in den ersten Nachkriegsjahren die amtlich registrierten Zahlen von Abtreibungen nach Vergewaltigungen und auch die Abgabe von Besatzungskindern an Pflegeeltern oder in Heime an.
Satjukow stützt sich auf eigene Studien in Archiven im In- und Ausland, darunter denen der Besatzungsmächte, und auf wissenschaftliche Hochrechnungen von namhaften Bevölkerungsstatistikern. Mehr als vier Jahre lang beschäftigte sich Silke Satjukow, unterstützt von Professor Rainer Gries von der Universität Jena, intensiv mit diesem Thema. In dieser Zeit wuchs ihre Datenbank, die Angaben zu betroffenen Personen zusammenführt, stark an.
Geschichtswissenschaftler Gries sagt: „Offenkundig bedurfte es des Abstandes von zwei bis drei Generationen, bis das Tabu überhaupt gebrochen werden konnte.“ Seiner Meinung nach gebe es jetzt ein Zeitfenster, das unbedingt genutzt werden sollte, um mehr über diese bislang kaum aufgearbeitete Seite der Nachkriegszeit zu erfahren. Ihren Wissensstand legte das Autoren-Duo in seinem am Montag erscheinenden Buch „Bankerte“ nieder. Der Titel wurde abgeleitet von einem früher üblichen Begriff - Bankerte stand dereinst für uneheliche Kinder und wurde bis in die 1960er Jahre in Ost und West häufig als Schimpfwort verwendet.
Einen ersten Fingerzeig auf die schwierige Problematik fand Silke Satjukow, selbst Jahrgang 1965, schon zu DDR-Zeiten. „In Weimar, meiner Heimatstadt, lebte viele Jahre ein dunkelhäutiger Mann, ansonsten ein Thüringer wie er im Buche steht.“ Von ihm habe sie erfahren, dass sein lange Zeit unbekannter Vater ein amerikanische Besatzungssoldat war. Zum Hintergrund: US-Einheiten, in denen oft auch viele Farbige dienten, befreiten Weimar im April 1945. Die Russen rückten erst später in Thüringen ein, im Sommer des gleichen Jahres und blieben bis nach dem Mauerfall.
Im Umfeld diskriminiert
Laut Satjukow und Gries stieg in den ersten Nachkriegsjahren die amtlich registrierten Zahlen von Abtreibungen nach Vergewaltigungen und auch die Abgabe von Besatzungskindern an Pflegeeltern oder in Heime an. Trotzdem sei das immer die Ausnahme von der Regel gewesen. Satjukow: „Mindestens 70 Prozent der Mütter stellten sich der gewaltigen Herausforderung und zogen ihren Nachwuchs selbst groß, oft unter widrigsten Bedingungen.“ Dazu müsse nicht nur die materielle Notlage gezählt werden. Diese Frauen und ihre Kinder, so das Ergebnis der Befragungen, wurden nicht nur gehänselt oder von Nachbarn beschimpft, sondern wegen ihres unbekannten Vaters häufig in der Schule oder bei der Arbeitssuche regelrecht diskriminiert. Solche erlebten Niederlagen, ergänzt Gries, könne man vielleicht verdrängen. „Trotzdem schleppen die Betroffenen sie ein Leben lang mit sich herum, als eine schwere Last.“
„Bankerte“, 415 Seiten, aus dem Campus Verlag Frankfurt erscheint am Montag und kostet 29,90 Euro. (mz)