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Reportage aus Lesbos Flüchtlinge auf Lesbos: Am Ende Europas

Von Kordula Doerfler 27.06.2018, 14:42
Langeweile und Hoffnungslosigkeit bestimmen den Alltag.
Langeweile und Hoffnungslosigkeit bestimmen den Alltag. Getty Images Europe

Lesbos - Die Straße zum Tor nach Europa windet sich durch sanfte Hügel, bewachsen mit knorrigen Olivenbäumen. Die Idylle bekommt schnell Risse, je näher man dem Flüchtlingslager Moria kommt. In den staubigen Straßengräben türmt sich der Abfall, Gestank weht herüber. Das Camp ist umgeben von meterhohen Mauern und Stacheldrahtrollen, es wird bewacht von Militär und Polizei.

Am Eingang herrscht reges Treiben, Gruppen von jungen Männern, verschleierte Frauen mit kleinen Kindern an der Hand, Familien gehen aus und ein, drängeln sich vor den Bussen, die ins nahe Mytilene fahren. Drinnen stapeln sich Container zu Wohntürmen, daneben stehen Zelte dicht an dicht, über allem lastet die Hitze. Die sanitären Verhältnisse spotten jeder Beschreibung, stundenlang wird das Wasser abgestellt, ein stinkendes Rinnsal läuft die holprige Betonstraße in der Mitte hinunter. Und überall sind Menschen, viel zu viele Menschen. Kinder schreien, es liegt Spannung in der Luft, eine Gruppe von Afrikanern liefert sich ein heftiges Wortgefecht mit arabisch sprechenden Männern.

Nur eines haben alle hier im Überfluss: Zeit

Zeit, die zäh zerrinnt zwischen Warten, Hoffen, Bangen. Mehr als 7.000 Menschen sind derzeit im Auffanglager Moria, einem „Hot Spot“ der Europäischen Union, auf der griechischen Insel Lesbos zusammengepfercht, ausgelegt ist es für höchstens 3.000. Das Lager ist benannt nach dem nächsten Dorf, es liegt ein paar Kilometer nördlich von Mytilene, einer geschäftigen kleinen Hafenstadt an der Ostküste von Lesbos. Journalisten haben selten Zutritt, mit etwas Glück kommt man trotzdem hinein. Früher war hier ein Militärstützpunkt. Lesbos gehört zu den Inseln, die das Pech haben, an der Außengrenze Europas zu liegen, an klaren Tagen kann man hinüberschauen in die Türkei. Nur ein paar Seemeilen liegen dazwischen, die Grenze verläuft im Meer. Von dort sind alle hier per Boot gekommen, und alle haben sie gehofft, über Griechenland in den Sehnsuchtsort Europa zu gelangen.

Moria ist ein Ort, an dem jede Hoffnung stirbt

„Es gibt keinen Unterschied zwischen dem Leben hier und in Syrien“, sagt Ahmad Al-B.*. „Dabei sind wir doch geflohen, um sicherer leben zu können.“ Er sitzt an diesem Morgen in der Hocke in dem Container, in dem er seit ein paar Tagen mit seinen Eltern und seinem kleinen Bruder lebt. Ahmad ist 14 Jahre alt, er trägt einen modischen Kurzhaarschnitt, ein graues T-Shirt und eine schwarze Trainingshose. Nur seine Augen sind viel zu traurig für einen Jungen seines Alters, wenn er spricht, fällt es ihm schwer, sein Gegenüber direkt anzuschauen.

Die Fläche, die der Familie zur Verfügung steht, ist kaum zwei mal zwei Meter groß. Graue Filzdecken sind auf Leinen aufgehängt, mehr Privatsphäre gibt es nicht. Drei Familien leben hier, insgesamt sind es 20 Menschen, aber es ist immer noch besser, als in einem der Zelte zu hausen. Ahmads Tag beginnt frühmorgens, zwei bis drei Stunden muss er sich anstellen an der Essensausgabe, die gleiche Prozedur drei Mal am Tag, sieben Mal die Woche. In der vielen Zeit, die dann immer noch bleibt, wandert Ahmad ruhelos herum, manchmal spielt er mit Freunden, die er hier gefunden hat. Manchmal läuft er hinunter ans Meer, der Weg führt vorbei an Olive Grove, einem wilden Lager gleich nebenan. Seit ein paar Monaten ist es immer weiter gewuchert unter den Olivenbäumen, hier hausen Menschen, die es in Moria nicht mehr ausgehalten haben, und die griechischen Behörden dulden es.

Wer Moria nicht aushält, lebt im wilden Lager

Die Familie von Ahmad ist seit März in Moria, sie kam in einer Odyssee aus Syrien über die Türkei, in einer stürmischen Nacht setzten sie über nach Lesbos und wurden von der griechischen Küstenwache aufgegriffen. Die Familie ist geflohen vor dem Krieg und den Milizen des Islamischen Staats, ihr Haus wurde durch Bomben zerstört. Ihre beiden älteren Söhne haben die Eltern schon Ende 2015 vorausgeschickt, in der Hoffnung, dass sie das sichere Europa erreichen würden, weil sie fürchteten, dass der IS sie rekrutieren würde. Die beiden waren damals 15 und 16 Jahre alt.

„Moria macht uns alle krank“, sagt Ahmads Mutter leise, und man glaubt es ihr sofort. Im Camp gibt es nur wenige Ärzte. Ahmad hat Probleme mit den Ohren, der jüngere Sohn, erst sechs Jahre alt, leidet unter schwerem Asthma. Sogar Familien mit kleinen Kindern sitzen oft Monate lang fest. Das Lager ist einer der fünf „Hot Spots“ der EU auf den Inseln in der Ost-Ägäis und untersteht der Regierung in Athen. Vor Ort sind Mitarbeiter der griechischen Asylbehörden, der europäischen Asylbehörde EASO, vom Flüchtlingshilfswerk der Vereinten Nationen und ein paar Nichtregierungsorganisationen. Man könnte die Hot Spots auch als eine Art Ankerzentrum bezeichnen, wie sie Innenminister Horst Seehofer im fernen Deutschland überall einrichten möchte.

„Wir repräsentieren die Menschenwürde in Europa“

Alle Neuangekommenen müssen in Moria ihren Antrag stellen. Sie können sich frei bewegen, dürfen aber erst aufs Festland, wenn sie Asyl erhalten haben. Bis dahin sind die Inseln große Gefängnisse, derzeit warten dort etwa 15.000 Menschen auf ihr Verfahren. Seitdem die EU im März 2016 das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei geschlossen hat, ist die Zahl derer, die nach Griechenland gelangen, stark zurückgegangen. Das war ja auch das Ziel der europäischen Staats- und Regierungschefs. Aber noch immer kommen allein auf Lesbos jede Woche zwischen 300 und 500 Menschen an. In dem Abkommen hat sich die Türkei verpflichtet, abgelehnte Asylbewerber zurückzunehmen, im Gegenzug nimmt die EU legal syrische Flüchtlinge auf. So weit die Theorie. Tatsächlich weist Griechenland kaum jemanden aus, da griechische Richter die Türkei meist nicht als sicheren Drittstaat anerkennen. Die linke Regierung in Athen lässt auch immer wieder Menschen aufs Festland bringen, noch ehe sie Asyl erhalten haben, um sie menschenwürdiger unterzubringen.

„Wir sind die, die die Menschenwürde in Europa repräsentieren“, sagt Stavros Mirogiannis, „denn wir sind die ersten, zu denen die Flüchtlinge kommen“. Mirogiannis leitet das zweite Flüchtlingslager auf Lesbos, es liegt ein paar Kilometer weiter auf einem Hügel über dem Meer und wird von der Gemeinde Mytilene betrieben. Nach Kara Tepe werden diejenigen geschickt, die besonderen Schutz brauchen, Familien mit kleinen Kindern, Kranke, Behinderte, alleinstehende Mütter. Im Vergleich zu Moria ist Kara Tepe ein freundliches Dorf, es gibt schattige Gemeinschaftsflächen, einen Kinderspielplatz, eine Teeküche, bunt bemalte Container, in denen die Kinder zum Unterricht gehen, Kurse für die Erwachsenen, medizinische Versorgung. Dazwischen blühen Sonnenblumen.

Griechenland fordert Solidarität von Europa

„Wir haben die Pflicht, diesen Menschen zu helfen“, sagt Mirogiannis. Er ist ein kräftiger Mann mit militärisch kurzen Haaren und einem sehr intensiven Blick, und man hört von ihm Sätze, wie sie selten geworden sind in Europa. Mirogiannis weiß, dass es nicht sehr viel ist, was er den derzeit 12.000 Bewohnern bieten kann, aber die Gemeinde tut, was sie kann. Warum die Verhältnisse in Moria so schlimm sind? Mirogiannis gibt die Frage zurück. „Warum lässt Europa so etwas zu? Wir brauchen seine Unterstützung“, sagt er.

Griechenland trägt neben Italien die Hauptlast der Flüchtlinge und fordert schon seit Jahren mehr Solidarität. Aber Europa, in der Flüchtlingspolitik vollkommen zerstritten, ist sich nur in einem einig: die Außengrenzen noch stärker abzuschotten.

Hier müssen die ausharren, die Europa vergessen hat

Das Überleben in Moria ist ein Kampf, der die letzten Kräfte auffrisst. Die meisten Bewohner kommen aus Syrien, gefolgt vom Irak, dem Iran und Afghanistan, es gibt aber auch viele Afrikaner, aus dem Kongo, aus Nigeria, Kamerun, Somalia. Das Zusammenleben so vieler Menschen auf so engem Raum schafft Konflikte, immer wieder kommt es zu gewaltsamen Auseinandersetzungen. Zuletzt gingen muslimische Araber auf Kurden aus dem Nordirak los und verletzten mehrere Menschen schwer. Viele Kurden sind davongelaufen aus dem Lager, weil sie um ihr Leben fürchten.

Angst haben viele in Moria, auch die Familie von Ahmad Al-B.. Die Nächte sind am schlimmsten. „Wir haben uns nicht vorstellen können, dass wir in Europa so leben müssen“, sagt Jussuf Al-B.*, der Vater. Und dankt dann Angela Merkel, der deutschen Kanzlerin, die dafür gesorgt hat, dass Deutschland so viele Syrer aufgenommen hat. Er weiß nicht, dass die Tage ihrer Kanzlerschaft womöglich gezählt sind, wegen des erbitterten Streits um die Flüchtlingspolitik.

Trennung zerreißt die Familie

Die Familie will so schnell wie möglich nach Deutschland, denn dort leben die beiden größeren Söhne jetzt. „Warum dürfen wir nicht zu ihnen?“, fragt er und zeigt auf seinem Handy ein Foto von den beiden. Sie lachen in die Kamera. Dass die deutsche Politik seit Jahren auch über den Familiennachzug streitet, weiß Al-B. ebenfalls nicht. Die Söhne in Deutschland sind mittlerweile volljährig, das macht die Sache nicht einfacher. Manchmal, sagt die Mutter, sind die Sehnsucht und der Trennungsschmerz kaum noch zu ertragen. Sie kämpft mit den Tränen. Auch Ahmad träumt davon, seine großen Brüder endlich wiederzusehen. Er sitzt mit zwei anderen Jungs in einem Zelt auf dem Boden, es ist mittlerweile Nachmittag geworden und drückend schwül. Das Zelt steht nicht im Lager, sondern jenseits der Straße, in einer mobilen Klinik, die die Organisation Ärzte ohne Grenzen (MSF) seit Ende vergangenen Jahres betreibt. Das staubige Gelände ist eingezäunt, die Behandlungsräume bestehen aus Kleintransportern und Zelten. Hinter dem Zaun verrottet Plastikmüll, daneben grast ein Pferd.

50 bis 80 Kinder, schwangere Frauen und Opfer von sexueller Gewalt behandeln die Ärzte und Krankenschwestern aus der ganzen Welt am Tag, unter Bedingungen, die sie oft an ihre Grenzen bringen. Aus Protest gegen das EU-Türkei-Abkommen hat MSF die Arbeit innerhalb des Camps eingestellt und unterhält neben einer Klinik in Mytilene nun dieses Feldlazarett. „Die Menschen, die hier ankommen, haben Furchtbares erlebt, viele haben Gewalt, Folter, Misshandlung hinter sich“, sagt Declan Barry, ein Kinderarzt aus Irland und medizinischer Koordinator von Ärzte ohne Grenzen in Griechenland. „Das System hier führt dazu, dass sie weiter traumatisiert werden.“

Sie wollen ein ganz normales Leben

Die Kinder kommen mit Durchfall, Atemwegserkrankungen, Hautausschlägen. Noch viel schwerer sind die Versehrungen an der Seele. „Viele machen ins Bett, sie haben schwere Alpträume und Angstzustände“, sagt Pina Deiana. Die Psychologin aus Italien hat mehrere Wochen lang vier Gruppen von Kindern behandelt, im Alter von sechs bis 17 Jahren. Im Zelt von MSF konnten sie über ihre Ängste und Alpträume sprechen, und jede Gruppe hat sich kollektiv eine Geschichte von Kindern ausgedacht, die Ähnliches durchgemacht haben wie sie selbst. Die Geschichten hat Deiana zusammen mit zwei Mitarbeiterinnen aufgeschrieben, die Kinder haben auch gezeichnet, was sie erlebt haben. Es sind erschütternde Zeugnisse von zerstörten Kindheiten, von Bomben, die auf ihre Häuser fallen, von IS-Kämpfern, die kleine Mädchen gegen eine Zigarette verkaufen, von Menschen auf seeuntüchtigen Schlauchbooten.

An diesem Tag präsentiert jede Gruppe ihr Werk. Die Familien dürfen zuhören, es ist eine willkommene Abwechslung im schweren Alltag. Ahmad ist jetzt konzentriert, mit zwei anderen Halbwüchsigen erzählt er das Schicksal von Abdallah und Muhammad, zwei Kindern, die ihr Leben in Syrien lebten, bis es zerfiel. Ahmad und seine Freunde sind zwischen 14 und 17 Jahre alt, drei ganz normale Jungs, die so gern cool sein wollen, einer trägt eine Baseballkappe verkehrt herum. Aber es ist nichts mehr normal in ihrem Leben. Anders als die kleineren Kinder haben sie ihre Geschichte mit Fotos illustriert, die sie im Internet gefunden haben, Bildern vom Krieg, den Gräueltaten des IS, den schrecklichen Verhältnissen in Moria.

Die Traumata kommen immer wieder zurück

Die Eltern hören fast atemlos zu, manchen laufen die Tränen herunter. Die Kinder, das ist zu spüren, haben mit Pina Deianas Hilfe einen Weg gefunden, sich zu öffnen. „Vor allem die schon etwas älteren Jungs haben Angst, ihre Traurigkeit zu zeigen und wollen ihre Eltern nicht noch mehr belasten“, sagt Deiana. Sie ist eine lebhafte kleine Frau mit einem sehr großen Herzen und weiß doch, dass diese Therapie nur ein Tropfen im Ozean ist, wie sie es formuliert, denn es bräuchten ja alle der fast 2.000 Kinder in Moria Hilfe. „Die Traumata kommen immer wieder zurück.“ Deiana hat die Kinder angeleitet, in sich selbst einen Rückzugsraum zu finden, in dem sie sicher fühlen und auch träumen können.

Ahmad und seine Freunde haben sehr konkrete Träume, sie wollen raus aus Moria, in die Schule gehen, vielleicht studieren und Familien gründen. Und vor allem in Frieden und Sicherheit leben. Ahmad lächelt jetzt. Muhammad, der fiktive Junge in ihrer Geschichte, schafft es schließlich, mit seiner Familie auf legalem Weg nach Deutschland zu reisen, mit dem Zug. Er wird dort ein erfolgreicher Bauer, so wie es sein Vater in Syrien war. Die Geschichte endet mit einem Foto, das einen sehr deutschen Bauernhof zeigt, auf einer grünen Wiese und umgeben von Wald. Sogar die Eltern können darüber lachen.

*Namen von der Redaktion geändert