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Engagement für die Wende Engagement für die Wende: Wie sich im November 89 in Halle ein Studentenrat gründete

Von Udo Grashoff 03.11.2019, 11:00
Studenten der Uni Halle, Fachbereich Biochemie, demonstrieren am 23. Oktober 1989 auf dem Marktplatz in Halle.
Studenten der Uni Halle, Fachbereich Biochemie, demonstrieren am 23. Oktober 1989 auf dem Marktplatz in Halle. BStU, MfS, BV Halle

Halle (Saale) - Es ist ein ausgesprochenes Fehlurteil, das endlich korrigiert werden sollte. 1989 sei „eine Revolution gewesen, bei der die Studenten nicht hervorgetreten sind, wie das häufig sonst bei Revolutionen der Fall ist“, behauptete Geschichtsprofessor Hermann-Josef Rupieper. Mitnichten.

Hallesche Studenten gehören vor allem in den ersten Wochen der friedlichen Revolution, als es noch Mutes bedarf, zu protestieren, zu den aktivsten. Sie sammeln Unterschriften für das Neue Forum, verfassen Aufrufe und treffen sich in privaten Wohnungen oder in Konvikten, den Wohnheimen der Theologiestudenten. Sie lesen verbotene Bücher und diskutieren Reformideen. Am 7. November 1989 findet an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg die erste Sitzung des Studentenrats statt. Anwesend sind Journalisten des „Senders Halle“ und der Universitätszeitung. Es ist der erste Studentenrat in der gesamten DDR. Bisher war das unbekannt.

Halles Studenten organisieren sich schon 1987

Doch der Reihe nach: Der Theologiestudent Friedemann Stengel (heute Professor für historische Theologie) und der Student der Ur- und Frühgeschichte, Johannes Wien (heute Vorstand und Sprecher des Humboldt-Forums in Berlin) rufen einen Diskussionskreis ins Leben, der zu einer Keimzelle der Revolution an der Universität wird. Dazu gehören Studenten verschiedener Fachrichtungen, die sich gegenseitig vertrauen. Die Stasi tappt im Dunkeln, im Kreis der 28 Studenten befindet sich kein einziger Spitzel.

Der Autor des Textes Dr. Udo Grashoff (53) ist Schriftsteller und Historiker. Seit September 2014 arbeitet Grashoff am University College London. Im August ist sein Buch „Studenten im Aufbruch“ (112 Seiten, ISBN 978-3-96311-208-9) im Mitteldeutschen Verlag erschienen.

Bei den Theologen gibt es bereits ab Herbst 1987 eine unabhängige Interessenvertretung der Studierenden. Auch hier ist Halle ein Vorreiter im DDR-Maßstab. Als im Herbst 1989 die Herrschaft der SED ins Wanken kommt, soll die gesamte Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg demokratisiert werden. Dass die Idee in kürzester Zeit verwirklicht werden kann, liegt paradoxerweise daran, dass die FDJ-Kreisleitung der Universität am 17. Oktober den „Dialog“ zur offiziellen Linie erklärt und ein radikales Umdenken fordert. Dass es der FDJ keineswegs nur um Worte, sondern um konkrete Veränderungen geht, davon zeugt die Einberufung einer studentischen Vollversammlung für den 28. Oktober 1989.

Studenten streiten im Wendeherbst für Interessensvertretung

Diese Versammlung wird nicht nur im Rahmen der FDJ vorbereitet. Der Kreis der oppositionellen Studenten plant, die Versammlungsleitung per „Kampfabstimmung“ zu übernehmen. Es kommt jedoch anders. 329 Studierende kommen laut Zählung des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) in die Aula im Löwengebäude. Allein der Umstand, dass die Veranstaltung mehr als drei Stunden dauert, verdeutlicht die Ernsthaftigkeit, mit der die Studenten um die Zukunft ihrer Interessenvertretung streiten. Die FDJ hat ein offenes Mikrofon aufgebaut. Es kommt zu einer lebhaften Diskussion.

Im Podium sitzen einige Vertreter der FDJ-Kreisleitung, „nicht überzeugt von der eigenen Sendung, hilflos und überfordert“, wie sich die damalige Versammlungsleiterin Petra Sitte, die heute für die Linke im Bundestag sitzt, erinnert. Am Ende wird bei nur zwei Gegenstimmen und fünf Enthaltungen beschlossen, einen provisorischen Studentenrat zu bilden, der sich aus gewählten Vertretern zusammensetzen soll. Die Wahl findet bereits in den nächsten Tagen statt, organisiert von der FDJ.

Am 7. November bildet sich der erste Studentenrat in Halle

Die konstituierende Sitzung des Studentenrates, dem 58 Studierende angehören, stellt am 7. November in gut drei Stunden die Weichen für die künftige Arbeit der studentischen Interessenvertretung. Bemühen um Professionalität, Basisdemokratie und pragmatische Lösungen prägen die Beratung, die im „Thälmannkabinett“ der damaligen FDJ-Kreisleitung stattfindet.

Der Studentenrat verabschiedet eine Erklärung zur Aussetzung des obligatorischen Marxismus-Leninismus-Unterrichts. Binnen weniger Tage stimmen 89 Prozent der halleschen Studierenden zu.

Vergleicht man die Aktivitäten der halleschen Studenten mit denen an anderen Universitäten der DDR, so fällt auf, dass die Hallenser zwar später starten, dann aber stärker an Fahrt gewinnen. An der Berliner Humboldt-Universität finden sich bereits am 17. Oktober etwa 4000 Studenten und junge Wissenschaftler zusammen, um eine unabhängige Studentenbewegung zu gründen. Der dortigen FDJ-Leitung gelingt es jedoch zunächst, die Schaffung einer autonomen Studentenvereinigung zu verhindern. Anders in Halle. Hier akzeptiert die FDJ die unerwartete Entwicklung.

„Freiheitsfest“ der Studenten im Tschernyschewskij-Haus

Im November und Dezember 1989 tritt der Studentenrat nahezu wöchentlich zusammen. Am 21. November wird das basisdemokratische Selbstverständnis geklärt und eine Urabstimmung über die studentische Interessenvertretung in die Wege geleitet. Zugleich werden Jens-Uwe Knoch, Frank Baier und Hendrik Liedtke als Sprecher gewählt. Die zeitraubenden Debatten über Verfahrensfragen lassen manche an der Praktikabilität von Basisdemokratie zweifeln. Aber noch gibt es breites Interesse am Studentenrat. Das Gremium floriert in einem Umfeld unabhängiger studentischer Initiativen.

Das illustriert das am 28. November 1989 von Studenten der Sektion Geschichte/Staatsbürgerkunde organisierte „Freiheitsfest“ im Tschernyschewskij-Haus. Mit-Initiator Axel Rüdiger erinnert sich: „Da mein historisches Herz für die Französische Revolution und den Deutschen Idealismus brannte, lag nichts näher, es Hegel, Schelling und Hölderlin gleichzutun, und 1989 wieder einen Freiheitsbaum aufzustellen.“ Rüdiger verliest eine selbst verfasste „Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte“, und es kursiert eine Petition, welche die vollständige Rehabilitierung der Opfer des Stalinismus fordert.

Halles Studenten kämpfen engagiert für Veränderungen

Im Kampf gegen die FDJ, der Ende 1989 endgültig entschieden wird, zeigt der Studentenrat ein letztes Mal, dass Basisdemokratie in bestimmten historischen Situationen ein kraftvolles und effektives Mittel sein kann, um politische Veränderungen durchzusetzen. Im Dezember 1989 bestätigt eine Urabstimmung die vorläufige Satzung des Studentenrates.

Das neue Jahr bringt dann eine ganz andere Herausforderung. Schleichend verliert die Interessenvertretung ihre Massenbasis. Das Engagement und Interesse der Studenten geht im Frühjahr 1990 gegen Null. Immerhin gelingt, in zähem Ringen die „verfasste Studentenschaft“ einzuführen. Damit wird die im Herbst 1989 geschaffene Form der studentischen Selbstverwaltung bewahrt. Das an vielen westdeutschen Universitäten bestehende Studentenparlament lehnt der Studentenrat ab. Johannes Wien gehört zu den Wenigen, die das anders sehen.

Er wirft seinen Kommilitonen „mangelnde Kenntnis des demokratischen Pluralismus“ vor. Angesichts der Neigung mancher Studentenvertreter, sich nach Belieben ins politische Tagesgeschäft einzumischen, statt sich mit dem Klein-Klein des lokalen Campus abzugeben, sind die Vorbehalte zu einem gewissen Grad aber berechtigt. Der Studentenrat, den es immer noch gibt, ist heute ein Kompromiss aus beiden Formen: Halb westdeutsches Studentenparlament, halb ostdeutsches Rätesystem. (mz)

Am 7. November moderiert Udo Grashoff um 19.30 Uhr im Löwengebäude der Uni Halle (Universitätsplatz 11) zum Thema eine Podiumsdiskussion mit Zeitzeugen, der Eintritt ist frei.