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Ein Jahr nach Amoklauf Ein Jahr nach Amoklauf: Das alte Leben holt sie ein

Von Eike Kellermann 25.04.2003, 17:13

Erfurt/MZ. - Annette Albrecht, 41 Jahre alt, wohnt in einem Reihenhaus außerhalb von Erfurt. Ihr Sohn ist volljährig und lebt noch bei ihr. Wenn die Mathematiklehrerin abends weggeht, telefoniert er ihr nach. Ihr Sohn lässt sie nicht gern allein. Er macht die Einkäufe. Sie flieht in die Dämmerung, weil sie die Blicke fürchtet. Zu Hause bezieht sie das Bett ihres Mannes immer neu, obwohl er seit einem Jahr nicht mehr darin lag. Annette Albrecht wird ihres Lebens nicht mehr froh und nur mit Mühe Herr.

Am 26. April vor einem Jahr hat ihr Robert Steinhäuser, der Todesschütze vom Gutenberg-Gymnasium, den Lebensgefährten genommen. Er unterrichtete Physik. Annette Albrecht muss seit einem Jahr weiterleben. Aber wie? Drei oder vier Mal am Tag ist sie in der ersten Zeit auf den Friedhof gegangen. Mittlerweile kann sie hin und wieder einen Tag auslassen. "Ich tue Dinge, die sind nicht normal.

Viele der Hinterbliebenen - Robert Steinhäuser tötete zwölf Lehrer, zwei Schüler, eine Sekretärin, einen Polizisten und sich selbst - treffen sich regelmäßig. "Manchmal bin ich danach fix und fertig. Aber ich habe immer darauf geachtet, dass mir an diesen Tagen nichts dazwischenkommt. Hoffentlich machen wir weiter. Hoffentlich das ganze Leben."

Eric Langer ist Rechtsanwalt und 40 Jahre alt. Er vertritt eine Gruppe der Hinterbliebenen nach außen. Mit seiner Lebensgefährtin, einer Kunstlehrerin, war er ein Jahr zusammen. "Ich habe am nächsten Tag sofort wieder gearbeitet. Ich habe intensiv gearbeitet, man konnte ja auch nichts anderes." Seinen Rhythmus habe er noch immer nicht gefunden. Die Schule, sagt er, ist doch ein scheinbar behüteter Ort. Wie kann man da solch ein Verbrechen erwarten? Bis heute macht ihn das fassungslos. "Nach einer langen Krankheit erwartet man den Tod, dann ist er vielleicht sogar eine Erlösung." Der sechzehnfache Mord im Gymnasium hatte sich nicht angekündigt.

"Er hat alles kaputtgemacht", sagt Annette Albrecht über den Mörder. Sie sagt es nicht laut, aber ihre Stimme bebt. "Ich habe Wut und nochmal Wut und Haß." Ein paar Tage vorher hatten sie Fahrräder gekauft. Am 1. Mai wollten sie zum ersten Mal rausfahren. Die Fahrräder stehen im Keller, an seinem ist noch das Preisschild.

Ihr Opa sei vor Gram gestorben. Erst sammelte er alle Zeitungsartikel, im Juli war er tot. Die Familie ist jetzt der letzte Halt. Der Sohn, der Bruder und die Eltern. "Sie leben nur noch für mich." Wenn ihre Eltern da sind, dann ist sie wie ein Kind. "Ich bin 41, aber dann bin ich froh, keine Entscheidungen treffen zu müssen." Ihr Sohn schimpfe, man könne sie nicht allein lassen. Das Leben meinte es nicht gut mit ihr, und im Moment meint sie es nicht gut mit sich. Beim Bügeln verbrennt sie sich die Arme. Sie schneidet sich in den Daumen und weiß nicht mehr, wo das Pflaster ist. Sie raucht zu viel. Sie weint zu viel. Sie hängt ihm immer noch ein frisches Handtuch hin.

Sie schluchzt, wenn sie das erzählt. Eric Langer fasst sie vorsichtig am Arm. Bei der Begrüßung verschwindet das Schwarz ihrer Jeansjacke fast im Grau seines Anzugs. Sie ist schmal; sie umarmen sich wie Kriegsheimkehrer. Langer sagt: "Wenn ich darüber nachdenke, falle ich ganz tief. Den anderen geht es genauso. Krank sind wir alle." Der Schmerz liegt bei ihm buchstäblich auf der Hand. Er zeigt seine entzündeten Handflächen. Seit damals sei es so schlimm. Und seitdem müsse er öfter daran denken, wie schnell das Leben vorbeigehe. "Ich frage mich bei immer mehr Dingen, warum tue ich das?"

Annette Albrecht hat es mit Flucht versucht. Sie wechselte die Schule. Dann aber merkte sie, dass ihr die anderen fehlten. Die neuen Kollegen an waren nett, sie verstanden sie nicht. Schüler baten sie zurückzukehren. Die "Notgemeinschaft", wie es die Direktorin bezeichnet, hat auch Annette Albrecht wieder aufgenommen. Heute, am ersten Jahrestag, müssen sie dicht zusammenrücken. Woher sollen sie wissen, was jetzt das Richtige ist? Vielleicht die Dämonen vertreiben wie die 12. Klassen, die am letzten Schultag vor Ostern will durch das Ersatzschulgebäude tobten. Oder weggehen, wie einige der Hinterbliebenen, die Erfurt schon vor einer Woche verlassen haben.

Annette Albrecht wird demnächst umziehen. Sie erträgt es nicht mehr, wenn sie in ihrem Reihenhaus allein ist. Aber einfach neu anfangen kann sie nicht. Das alte Leben nimmt sie mit, in jeder Hinsicht. Nicht einmal ein Paar Schuhe kann sie weggeben. Sie will ihm auch in der neuen Wohnung ein Handtuch hinhängen.