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DDR-Staatssicherheit DDR-Staatssicherheit: Missstimmung bei der Stasi-Debatte

Von Markus Decker 21.03.2013, 08:55
Säcke mit Papierschnipseln von Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) lagern in der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin.
Säcke mit Papierschnipseln von Akten des Ministeriums für Staatssicherheit (MfS) lagern in der Stasi-Unterlagenbehörde in Berlin. DPA Lizenz

Berlin/MZ - Der Saal im Collegium Hungaricum war am Dienstabend über den letzten Platz hinaus gefüllt. Alle wollten wissen, ob es denn stimmt, was Ilko-Sascha Kowalczuk in seinem neuen Buch „Stasi konkret“ behauptet: dass die Zahl der Inoffiziellen Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR zuletzt zu hoch angesetzt und die Bedeutung des MfS damit insgesamt überschätzt worden sei. Nur der Leiter der Stasi-Unterlagen-Behörde, Roland Jahn, musste anders als seine Forscher krankheitsbedingt passen. Die von seiner Behörde veranstaltete Debatte, so viel darf man vorweg nehmen, hatte eine sachliche und eine gleichsam psycho-dynamische Komponente. Am Rande sei bemerkt: Auf dem Podium saßen fünf Westdeutsche und ein Ostdeutscher – Kowalczuk.

Geheimpolizei stellte sich mächtiger dar

Der Behörden-Spezialist auf dem Gebiet der IM-Forschung, Helmut Müller-Enbergs, hielt an der von ihm wesentlich mit ermittelten Zahl fest, wonach schlussendlich 189000 Frauen und Männer als IM tätig gewesen sein. Er betonte allerdings, es sei darum gegangen, eine Dimension abzustecken. Zahlen seien allenfalls ein Hilfsmittel. Denn während das MfS sehr genaue Angaben über seine hauptamtlichen Mitarbeiter hinterlassen habe, fehle dergleichen bei den IM. Klaus Schroeder, Leiter des Forschungsverbundes SED-Staat an der Freien Universität Berlin, sagte, wer sich allein an den IM-Zahlen orientiere, der unterschätze die Dimension. Es habe in der DDR jede Menge Zeitgenossen gegeben, die Informationen über andere geliefert hätten, ohne je als Spitzel registriert gewesen zu sein. Schroeder stellte im Übrigen klar, es sei absurd, wenn sich Linksfraktionschef Gregor Gysi gegen Stasi-Vorwürfe mit dem Hinweis verteidige, er habe statt dessen mit dem Zentralkomitee der SED zu tun gehabt. Schließlich habe die SED die Stasi kontrolliert – und nicht umgekehrt, so Schroeder. Er monierte, die Forschungsabteilung der Behörde habe es versäumt, das Ineinander von Stasi und SED mal gründlich zu analysieren.

Die Auseinandersetzung fand unterdessen vornehmlich zwischen Kowalczuk und seinem Kollegen Christian Booß statt – wobei Kowalczuk von Jens Gieseke unterstützt wurde. Er arbeitet am Zentrum für Zeithistorische Forschung in Potsdam. Kowalczuk befand, dass Geheimpolizeien auch davon lebten, sich selbst mächtiger darzustellen, als sie sind. Entsprechend sei die Angst der Bürger größer gewesen, als sie hätte sein müssen. Gieseke erklärte, die Menschen hätten vor 1989 langsam gemerkt, dass die Stasi eben nicht allmächtig war. Booß konterte, der Verlag habe Kowalczuks Buch mit der PR-Strategie flankiert, wonach die Stasi für zu wichtig befunden werde. Das sei eine „problematische Botschaft“, die ihm nicht gefallen habe. Es sei ja kein Zufall gewesen, dass die Menschen im Herbst 1989 zu den Stasi-Zentralen strömten. Auch rechne sein Kollege Tausende IM aufgrund fragwürdiger Hochrechnungen einfach raus. Tatsächlich habe der Inlandsgeheimdienst in der Deutschen Demokratischen Republik mehr Gewicht gehabt als in anderen osteuropäischen Ländern, unterstrich Booß. Gieseke kritisierte hingegen: „Wer die höchste Zahl nennt, bekommt die größte Aufmerksamkeit. Wer eine geringere Zahl nennt, wird als Verharmloser beschimpft.“ So gehe es nicht. Auch Kowalczuk wollte nicht in die Verharmloser-Ecke gedrängt werden.

Kein Grund zum dämonisieren?

Fragt man nach dem handfesten Ergebnis der Debatte, muss man sagen: Ein handfestes Ergebnis hat es nicht gegeben – außer der allgemein akzeptierten Erkenntnis, dass der Fokus auf die Stasi allein zur Erhellung von DDR-Verhältnissen eher schadet als nützt. Müller-Enbergs tat ohnehin kund, dass 56 Prozent aller Inoffiziellen Mitarbeiter dazu geworden seien, weil sie Angst gehabt hätten, ein solches Angebot abzulehnen. Kein Grund zum Moralisieren und Dämonisieren also.
Mit Händen zu greifen war unterdessen die Missstimmung unter den Beteiligten, von denen Müller-Enbergs, Kowalczuk und Booß aktuell Kollegen sind, während Gieseke früher ihr Kollege war. Man siezte sich. Man schüttelte den Kopf, wenn der andere sprach. Man vermied es vor allem, dem Kollegen in die Augen zu sehen. Lieber stierten die Forscher sauertöpfisch geradeaus ins Publikum. Oder sie fuhren dann und wann und mehr oder weniger sanft der Moderatorin Dagmar Hovestädt über den Mund. Sie ist die Sprecherin der Behörde. Eine Kollegin also. Gieseke sagte zwischendurch, er sei froh, nicht mehr in der Forschungsabteilung der Stasi-Unterlagen-Behörde arbeiten zu müssen. Spätestens nach diesem Abend weiß man, warum.

Der Historiker und Publizist Ilko-Sascha Kowalczuk
Der Historiker und Publizist Ilko-Sascha Kowalczuk
dpa Lizenz