DDR DDR: Letzter Flüchtling schwamm am 2. September 1989 über Ostsee

Winsen/Aller/Berlin/dpa. - Ironie der Geschichte: Heute arbeitet Wächtler als Rettungsassistent in Hannover, wo er wieder durch das trübe Glas von Krankenwagen schaut.
«Anfang September 1989 war von der bevorstehenden Wende nochnichts zu spüren», sagt Wächtler. Eigentlich geht es ihm ganz gut inder DDR, doch der damals 24-jährige Automechaniker erhofft sich mehrvom Leben, als der graue Alltag ihm bieten kann. «Ich hatte zwargenug Geld, aber man hat ja für sein Geld nichts bekommen. Außerdemwollte ich reisen, wohin ich wollte und nicht nur in diesozialistischen Staaten.» Also fasst er den Entschluss, aus der DDRzu fliehen. Der Weg über Ungarn oder die Prager Botschaft derBundesrepublik, den damals viele wählen, ist ihm zu gefährlich, da ermehrere Grenzen überqueren müsste. Die Ostsee erschien ihm da als derleichtere Weg. «Im Urlaub in Mecklenburg habe ich die Häuser amTimmendorfer Strand in Schleswig-Holstein gesehen, die zum Greifennahe schienen.»
Also macht er sich am 2. September in seinem Wohnort Karl-Marx-Stadt, heute Chemnitz, mit seinem Trabi auf den Weg in RichtungKüste. Die Vorbereitungen und die Einzelheiten der Flucht beschreibtdie Autorin Christine Vogt-Müller in ihrem Buch «Hinter dem Horizontliegt die Freiheit...» (Delius Klasing, Bielefeld 2003) ausführlich.Als Startpunkt seiner Flucht hat Wächtler die Wohlenberger Wiekwestlich von Wismar ausgesucht. Er zieht einen Neoprenanzug an, tarntdie freien Körperstellen mit Damenstrumpfhosen und steigt gegen 23.00Uhr im Schutz der Dunkelheit ins Wasser. Als es hell wird, schwimmter immer noch, er fühlt sich gut. «Die Entfernung hatte ich in etwarichtig eingeschätzt, allerdings hätte ich nicht gedacht, dass ich solange brauche», sagt Wächtler.
Mit Tagesanbruch wächst die Gefahr, von den DDR-Grenzschützernentdeckt zu werden. Tatsächlich passieren ihn zwei Patrouillenboote,zunächst scheinen sie ihn aber nicht zu bemerken. Gesehen hat ihnallerdings der Kapitän der westdeutschen Fähre «Peter Pan», die vomschwedischen Trelleborg nach Travemünde unterwegs ist. Die Fähreändert ihren Kurs und lässt ein Rettungsboot zu Wasser. Das sehenauch die DDR-Grenzer und steuern auf Wächtler zu, ein regelrechtesWettrennen beginnt. Das Rettungsboot erreicht den Flüchtling zuerst,Wächtler ist in Sicherheit. «An Bord der "Peter Pan" habe ich nochgehört, wie die Leute geklatscht haben, dann habe ich vor Erschöpfungdas Bewusstsein verloren», erinnert sich Wächtler. Die Passagieresammeln Geld für ihn, fast 5000 D-Mark kommen zusammen.
Seitdem hat Wächtler nie daran gedacht, in den Ostenzurückzukehren, obwohl die Mauer nur zwei Monate später fiel. «Ichfahre immer wieder gerne rüber, aber nach drei Tagen zieht es michzurück.» Es ist ihm gut ergangen seit 1989: Seine damalige Freundinund heutige Frau wurde noch kurz vor der Wende ausgebürgert. Mit ihrund den beiden 10 und 19 Jahre alten Kindern lebt er im selbstgebauten Haus in Winsen/Aller (Niedersachsen). «Seit ich hier bin,war ich keinen Tag lang arbeitslos», sagt Wächtler nicht ohne Stolz.Dass viele Menschen im Osten nicht so viel Glück hatten, bedrücktihn: «Ich denke ja schon noch wie ein Ostdeutscher und ich musssagen, es sieht doch sehr traurig aus.»