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WM-Historie: Brasilien 1950 WM-Historie: Brasilien 1950: Uruguay schockt Brasilien

14.06.2006, 11:42

Hamburg/dpa. - Auf der rechten Außenbahn hatte sich Uruguays Dribbelkünstler Alcides Edgardo Ghiggia in der 79. Minute den Ball geschnappt und damit begonnen, im Sprint die Gegenspieler wie Slalomstangen zu umkurven. Keiner der sich schon als Sieger der ersten Nachkriegs- Weltmeisterschaft fühlenden Brasilianer konnte ihn stoppen. Auch Torhüter Barbosa nicht, der beim 2:1-Siegtreffer für Uruguay eine unglückliche Figur abgab, was ihn sein Leben lang verfolgen sollte.

Mit dem goldenen, nach ihm benannten Pokal in den Händen stand FIFA-Präsident Jules Rimet ratlos am Spielfeldrand. Alles war für eine Siegesfeier des haushohen Favoriten vorbereitet, dem im letzten Spiel der komplett im Gruppenmodus ausgetragenen WM-Endrunde ein Unentschieden gereicht hätte. Niemand hatte auch nur im Traum mit dem zweiten Titel für Uruguay gerechnet, bis der mit 53 Jahren und 236 Tagen älteste WM-Schiedsrichter George Reader aus England das dramatische «Endspiel» abpfiff.

Während die Spieler ohne Ehrung und WM-Jubel in die Katakomben flüchteten, spielten sich auf den Rängen des größten Stadions der Welt Tragödien ab. Mindestens vier Menschen starben - drei an Herzversagen; einer stürzte sich von der Tribüne in den Tod. Die anderen verließen wie in Trance das nach dem Begründer der Sportzeitung «Journal dos Sport» benannte «Estadio Mário Filho», das kurz Maracana genannt wird. Die befürchtete Katastrophe blieb aus, aber ganz Brasilien trug wochenlang Trauer.

Brasiliens Trainer Flavio Costa hatte ein Mannschaft aufgeboten, die Fans und Experten gleichermaßen für unschlagbar hielten. Einer der Topstars war Ademir. Um ihn, den Torschützenkönig der WM, sorgte sich Uruguays Coach Juan Lopez vor der finalen Partie am meisten und deshalb richtete er an Obdulio Jacinto Varela einen eindringlichen Appell. «Ademir», impfte ihm Lopez beharrlich ein, «Ademir musst du an die Kette legen. Er darf nicht zum Schuss kommen.» Und tatsächlich blieb Brasiliens Topstürmer, ein Dribbelkönig wie 1938 Leonidas da Silva, blass und konnte seinen acht Toren kein weiteres hinzufügen.

Das sollte spielentscheidend sein, obwohl die Gastgeber zwei Minuten nach der Pause durch Rechtsaußen Friaca mit 1:0 in Führung gingen. Das Stadion glich einem Tollhaus. Feuerwerkskörper wurden abgeschossen und Freudentänze aufgeführt. Die überfüllten Tribünen drohten einzustürzen. Doch Juan Alberto Schiaffino leitete mit dem 1:1 (66.) die Wende ein. Das Fußball-Drama nahm seinen Lauf.

Zwölf Jahre nach der letzten WM vor dem Krieg fand die Fußball- Welt in Südamerika langsam zurück zur Normalität. Aber wie schon bei der WM-Premiere 1930 traten wieder nur 13 Länder-Mannschaften an. Die Kriesverursacher Deutschland und Japan waren noch aus dem Weltverband ausgeschlossen; Schottland, Frankreich und Portugal scheuten die weite Reise. Dafür aber waren England und vor allem Titelverteidiger Italien mit von der Partie. Die «Azzurri» hatten im Jahr zuvor das Herz ihrer Nationalmannschaft verloren, als die Spieler des AC Turin - darunter neun Nationalspieler - bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kamen. Für den zweimaligen Weltmeister war deshalb nicht unerwartet schon in der Vorrunde der Titelkampf zu Ende.

Einer Sensation kam dagegen die Pleite des Teams aus dem «Mutterland des Fußballs» gleich, das nach Jahren der selbst gewählten Isolation an der eigenen Arroganz scheiterte. Ausgerechnet der Fußball-Zwerg USA brachte dem «ungekrönten Weltmeister» England eine 0:1-Schlappe bei und leitete damit den Untergang des Teams um Dribbelkönig Stanley Matthews ein.

Der in Haiti geborene Joseph Gaetjens war der Held des Spiels, was ihm in seinem freudlosen Leben danach wenig nutzte. Als er im Juli 1964 in das von Diktator «Papa Doc» Duvalier regierte Haiti zurückkehrte, wurde er von der gefürchteten Geheimpolizei verhaftet und verschwand spurlos. Die Nachforschungen seines Bruders blieben erfolglos. Gaetjens starb am 11. Juli 1964 - die Todesursache wurde nie geklärt.

Brasilien steigerte sich nach dem schwachen 2:2 gegen die Schweiz zusehends und schien nach dem Gruppensieg in der Endrunde der besten Vier ungefährdet zum Titel zu stürmen. Dass es schief ging, wurde vor allem Keeper Barbosa angekreidet. Als er die «Selecao» 1993 nicht im Trainingslager besuchen durfte, weil er das Pech im Gepäck habe, meinte er bitter: «Für Verbrecher ist die Höchststrafe in Brasilien 30 Jahre - für mich ist sie wohl 50 Jahre.»