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Russland Russland: Goldener Ring und zwiespältige Liebe

Von Renate Voigt 20.06.2005, 09:29

Halle/MZ. - Ein Flusskreuzer wie die Viking Lomonosov, auf dem es seiner Passagierzahl wegen gemütlich-familiär und doch einigermaßen komfortabel zugeht, bietet ideale Bedingungen. Wer die Kulturangebote an Bord ab und an ausschlägt und sich auf eins der Decks begibt, wird für den Verzicht mit unbeschreiblichen Lichtspielen am Himmel und auf den Wassern sowie mit reizvollen Flusslandschaften belohnt, in die Holzhäuschen, Klöster und Kirchen eingebettet sind. Ziehen sie gemächlich an seinem Auge vorüber, glaubt der Reisende, alte Gemälde zu betrachten.

Das absolute Erlebnis einer solchen Reise zu nennen fällt schwer. War es der Katharinenpalast mit dem Bernsteinzimmer oder Schloss Peterhof mit seinen faszinierenden Kaskaden? Waren es die historisch bedeutsamen Städte des "Goldenen Ringes" nordöstlich von Moskau oder die Schleusen mit den imposanten Portalen? War es die Fahrt durchs abendliche Moskau oder der Besuch im Bolschoi Theater? Mir hat sich am tiefsten jene Morgenstunde eingeprägt, in der sich die Lomonosov der Insel Kishi im Onegasee näherte und neben anderen Holzbauten die Christi-Verklärungskirche mit ihren 22 Kuppeln, in blassrosa Licht getaucht, in den Blick kam.

Als das Schiff ankerte, war Zeit, über die Insel zu streifen. Sie ist ein einzigartiges Freilichtmuseum, dessen Sammlung russischer Holzarchitektur auf der Unesco-Liste des Weltkulturerbes verzeichnet ist. Neben Kirchen sind auch Bauern- und Landhäuser, Mühlen und Glockentürme zu sehen, die ausnahmslos im traditionellen russischen Stil erbaut worden sind. Das Juwel unter ihnen, das den Fremden fast den Atem anhalten lässt, ist die Christi-Verklärungskirche, deren silbern scheinende Kuppeln im wechselnden Tageslicht mystisch aufleuchten. Vertieft sich der Betrachter in diesen Anblick, fällt alle Unrast von ihm ab.

Gleichfalls erstaunlich, wenn auch auf andere Art, war zuvor Mandrogi. Dem Dorf am 22 Kilometer langen Fluss Swir, das im Zweiten Weltkrieg völlig zerstört worden ist, sieht man an, dass es nicht harmonisch gewachsen ist: Zu neu, zu kunstvoll, zu bunt sind die meisten seiner Holzhäuser, in denen im Sommer Kunsthandwerker aus ganz Russland arbeiten und Besuchern traditionelle Souvenirs zum Kauf anbieten. Wem es gelingt, sich von bunten Bauerntüchern, dickbauchigen Matrjoschkas, russischen Puppen und Lackdosen loszureißen und mit der Fähre ans andere Ufer des Swir überzusetzen, dem tut sich eine Märchenwelt auf, wie Puschkin sie mit dem Poem "Ruslan und Ludmilla" erdacht hat. Da ist der Märchen schnurrende Kater zu sehen, das allbekannte Hüttchen auf Hühnerbeinen, die kühnen Recken, die dem Swir entstiegen sind, die verzagte Prinzessin im Turm und der über seinem Gold wachende Zauberer: Holzskulpturen, die Jurij Gusew schuf. Der Künstler hatte das schönste, mit Schnitzereien reich verzierten Haus im Dorf gebaut und sechs Jahre in ihm gelebt. Während der Fahrt über den riesigen Rybinsker Stausee geht es an der Kirche eines gefluteten Dorfes vorbei. Wie ein Mahnmal ragt sie aus dem Wasser. Die Tiefebene, in der sich mit diesem einst etwa 700 weitere Dörfer befanden, wurde von großen Flüssen wie Wolga und Scheksna durchströmt. Stalin ließ beide Ströme eindämmen und ein Wasserreservoir anlegen, das die Dörfer ab 1941 flutete. Seither können Schiffe, ohne umzuladen, von Astrachan am Kaspischen Meer die Häfen an der Ostsee erreichen. Dennoch, der Anblick der Kirche ist bedrückend. Und er ruft Bilder des 1989 in der DDR angelaufenen, sofort verbotenen sowjetischen Films "Abschied von Matjora" (nach Valentin Rasputin) ins Gedächtnis, der die letzten Tage vor der Überflutung eines solchen Dorfes schildert und damit verbundene menschliche Tragödien sowie kulturelle Verluste aufzeigt.

Die Orte, an denen Russlands älteste Städte - die Städte des "Goldenen Ringes" - erbaut wurden, sind samt und sonders in Geschichtsbüchern verzeichnet: einer, weil hier ein neunjähriger Zarewitsch vermutlich ermordet wurde, ein anderer, weil sich dort bedeutende Handelswege kreuzten, ein dritter, weil da ein Bauer einem Zaren das Leben rettete. In der Rückschau fließen die Ansichten dieser ältesten russischen Städte zu einem verwirrenden Bild von Klöstern und Kirchen, von Fresken- und Ikonenwänden, von zwiebelbauchigen, bunten oder goldenen Kuppeln und beeindruckenden Märkten zusammen. St. Petersburg und Moskau, Beginn und Ende einer unvergleichlichen Reise, Wiedersehen mit altbekannten Städten, die sich jung zeigen; in manchem Frauen vergleichbar, deren angestrengtes Bemühen um Jugendfrische auf Kosten ihrer Persönlichkeit geht.

St. Petersburg allerdings, die Stadt der barocken Paläste, romantischen Kanäle und großzügigen Boulevards, ist eigenwilliger als Moskau: Die nordische Variante von Venedig, die von etwa 300 Kilometer langen Wasserstraßen durchzogen wird, hütet sich, sich allzu "trendy" zu geben. Und großzügig wie eh und je breitet sie ihre Schätze aus: drei Millionen Kunstwerke allein in der Ermitage.

Moskau dagegen, in dessen Flussbahnhof die Viking Lomonosov auf der Wolga einfährt, ist ganz Weltstadt: Überdimensionale Reklametafeln in der Twerskaja, und auch das GUM - trotz der alten Wandbilder, Stuckverzierungen und Springbrunnen - erscheint fremd. Kühl renoviert, beherbergt das Kaufhaus jetzt Nobelgeschäfte und hat viel seines einstigen Reizes verloren. Freilich, der Rote Platz und der Kreml mit Kirchen, Klöstern, Kasernen und Regierungsgebäuden sind, wie sie immer waren: am freundlichsten im Abendlicht, wenn die Konturen schwinden.

Der Arbat, einst Moskaus belebteste Fußgängerzone, ist jetzt Touristenmeile, auf der man den Dichter Bulat Okudshawa treffen kann: Seine Plastik scheint auf das Menschengewimmel zuzuschreiten. Manchen Touristen erinnert sie an Okudshawas "Romanze vom Arbat", an bewegende Erzählungen über seine Kindheit in der Stalinzeit und die Lagerhaft der Mutter.

Als Fazit bleibt: Russland mag man mögen oder nicht; gleichgültig lässt es niemanden. Wer es liebt, fühlt allenthalben, wie zwiespältig diese Zuneigung ist. So erstaunt es auch nicht, dass die Matrjoschka - die Puppe in der Puppe - ein beliebtes Mitbringsel aus Russland ist.